[ gärten der sehnsucht ]

Dezember 22nd, 2005


 

wie oft werden uns die türen geöffnet
schlurfen wir mit schmutzigen sohlen
über rote teppiche, neben den paravan
spuckend, hinter dem das unberührte
fiebert, die herzstücke unserer kind
heit achtlos vom fenstersims nehmend

nichts ahnend, nichts wissend, achtlos
und mit groben händen eine neue spur
in den staub ziehend

ohne gruss verlassen wir die gärten der
sehnsucht, im vorübergehen ein schnek
kenhaus pflückend, zur erinnerung, das
in den manteltaschen ohne nachhall
brechen wird wie die erste

liebe

wie oft sind wir die räuber einer ganzen
zeit. und hinter dem paravan weint deine
puppe mit dem porzellangesicht tränen
los dem abschied entgegen
 

foto: tangermünde, 26. märz 2005
 

weitere fotos aus der reihe ‚carpe diem‘:
’nachttresen‘, ‚ablenkung‘, ‚eastern star‘
‚tresenschach‘, ‚tattoo‘, ‚inventur‘


[ bekanntschaften II ]

Dezember 21st, 2005


 

und als ich jene hausecke an der ‚rue paradis‘
erreichte, durchbebte mich ein augenblicks-
fieber, als ob du an meiner seite gingest, nach
meiner hand greifend: schau doch mal

so habe ich dich wiedergefunden, fern von
traurigkeit, in den strassen dieser stadt, in
die ich verliebt bin, ungeachtet meiner un-
zulänglichkeiten zu verstehn
 

foto: vieux port
marseille, 18. dezember 2005


[ bekanntschaften I ]

Dezember 20th, 2005


 

einige strassen sind mir so vertraut, dass ich
mich auf das wiedersehen freute wie auf alte
bekannte; ich ändere die route meiner fussläu-
figen exkursionen, um neue hinzu zu gewinnen

auch worte kehren wieder, zögernd noch, je-
den tag ein paar mehr: als lernte ich sprechen
 

foto: rue saint francois d’assise
marseille, 19. dezember 2005


[ les fous ]

Dezember 19th, 2005


 

ob ihm nicht kalt sei, fragte die mandelverkäu-
ferin mit leisem ruf des erstaunens, auf die
nackten füsse meines begleiters weisend. il est
fou, antwortete ich, selber barfuss

(es ist bitterkalt, obwohl der mistral die stadt
wieder verlassen hat, morgens gegen halb
sechs, so sagt man)
 

foto: unter dem bahnhof saint charles
marseille, 18. dezember 2005


[ dimanche ]

Dezember 19th, 2005


 

marktstände am cours julien. ich stehle augenblicke
über schultern. dort ein lachen, handeln, tausch. ei-
ne frage, die sich ahnen lässt. begegnung. farbige
tücher fangen die sonne, glasperlen werfen sie zu-
rück ins blau. finger gleiten über stoffe, hüte wer-
den auf- und abgesetzt, man dreht sich vor spie-
geln, prüft, wägt. ça fait combien?

wachsame augen, sehnsüchtige hände. lippen oh-
ne wort. ein feuerzeug wirft funken in der höhle
einer hand

blicke finden sich, weichen voreinander aus wie
schritte. einen voran, stehen. verweilen im hauch
des andern. gehen, vergessen

eine wärmende tasse tee, atemnebel steigt, die
gleissende nachmittagssonne ist eine strassen-
katze, streicht über dächergiebel, wirft herab die
losen schornsteinschatten
 

foto: am cours julien
marseille, 18. dezember 2005


[ chatte ]

Dezember 18th, 2005

der mistral riss an den fensterläden. dennoch verschlief ich
den vollmond, unruhig in verworrenen träumen, obwohl ich
hierher gekommen bin, ruhe zu finden
 

erst, als wir bereits an der kleinen strasse vorüber gefahren
waren – ‚la deuxième rue a droite‘ -, erkannten wir, dass wir
das gesuchte dorf erreicht hatten (habt ihr ein ortsschild
gesehen?) und verstanden den zusatz in der wegbeschrei-
bung, der unser scheitern vorweggenommen hatte: ’si vous
loupez la rue …‘

‚la chatte‘ lässt sich weniger mit ‚katze‘ übersetzen (wovon
ich, naiv und des französischen nicht kundig, ausgegangen
war), als vielmehr mit ‚muschi‘ – in einem anderem wortsin-
ne also, plus vulgaire

mein kameraauge, am nächsten morgen unter obskursten
weihnachtsdekorationen unterwegs, um – für einen speziel-
len gruss an dich – das heraushebend-eigene dieses dorfes
mit dem eigentümlichen namen festzuhalten, fand aber we-
der eine katze noch … une chatte


[ gestern komet ]

Dezember 17th, 2005


 

aus schweren koffern tropft nicht immer
blut. manch zögern lohnt das warten. die
langeweile ist ein wort der
zeit

der kopf ein schwarzes loch, das herz
ist eine sonne. ihr umeinanderkreisen
dehnt uns eine die welt und ein komet
verbirgt sich hinter farben

du, gestern komet. und morgen?
 

scan: postkarte von gottfried schlögl (ca. 1988)


[ die waffen gestreckt in literaturkritischer demut ]

Dezember 16th, 2005

zeitdogmatisch: eckhard henscheid im feuilleton der ‚zeit‘
über „john lennons song »imagine« in literaturkritischer
hinsicht“

„(…) Dies ist so weit bekannt und seit spätestens 1963 kanonisch. Der wortmelodiöse Duktus etwa von Revolution, dito Help oder aber eben Imagine evoziert bekanntlich die harmonistischen Assonanzen der Renaissance-Lyrik wie die oft mehr disharmonischen Konkordanzen der viktorianischen Romantik, er konkludiert Moderne mit antizipierter Postmoderne, indem er deren hochpoetische Katachresen als stupend kataraktische Katastrophen ins Archiv der nationalen wie der Weltpoesie katapultiert (…)“ – zitiert aus: ‚die zeit‘ (no. 50/08. dezember 2005)

da klingelt nichts mehr: dröhnen tut’s, das kluge wort und ‚zeit‘-
gemäss ist dies gewiss – sogar satire wird zum würgemahl für
jenen, den nicht der stolz des bildungsbürgers vor dem mor-
gendlichen spiegel bläht (und dann im kollegialen kreis am mit-
tagstisch): wir sind doch wer. es zählt das wort – ein guter mann!
ein fleiss’ger türmer! – doch ist das los des eremiten, dass er
stets einsam glücklich ist und seine welt betrachtet aus der
ferne. und angstvoll nur bis an den horizont der ‚zeit‘


[ im focus: michael krauß ]

Dezember 15th, 2005


 

mit unermüdlichen händen, mit kunstvoller liebe, mit lehm und
stroh, mit holz, mit fresken in versteckten ecken hat er das alte
fachwerkhaus erneut ins leben geweckt, gab ihm mit lesecafé
und antiquariat neue, zeitgemässe aufgaben: michael krauß
 

anlässlich der eröffnung gibt peryton am 30. juni 2006 ein konzert
georg hemprich (solo) mit dem programm „chanson & lyrik“

wir freuen uns darauf
 

foto: im focus: michael krauß
tangermünde, 29. november 2005


[ davongekommen ]

Dezember 14th, 2005

entschuldige, sage ich, zur seite tretend und weiche so
einer nebelkrähe aus, die schimpfend auf dem fussweg
entgegenkommt

zurückgekehrt stelle ich fest, dass die dächer der um-
stehend geparkten autos mit schlierigem vogelkot zer-
schissen sind. ausser bei meinem

höflichkeit zahlt sich eben manchmal aus


[ kosmetik ]

Dezember 12th, 2005

wie schön ist das leben. oder wie grau ein morgen

die scheiben waren beschlagen, der wecker quengelte. ar-
beitskleidung zusammensuchen, handtuch einpacken, unter
die dusche, das morgendliche obst. einen kaffee? später. es
wird nicht angenehm sein, kopfüber den kranken huf zu hal-
ten, wenn regen hinter die brillengläser sprüht, sand tropft
aus dem fell, das nasse werkzeug aus den fingern gleitet; die
zerschnittenen handschuhe halten nicht, wärmen nicht

aber dann wird die fremde arbeit getan sein, das tier wird
sich wohler fühlen, erleichtert (das ist eines der bilder, die wir
uns machen, um zu rechtfertigen, was wir tun: kosmetik), ich
werde meine kleider gewechselt haben, wir werden uns gegen-
über sitzen, kaffee trinken, von gestern sprechen, von morgen

es wird ein wenig sein wie früher


[ pre-audio: weisst du ]

Dezember 11th, 2005

kurz vor der fahrt in den urlaub haben wir noch ein pre-
audio
hergestellt, schnell zusammengeschustert, mit
ein paar kleinen schnitzern und schnatzern, eben ein
noch nicht ganz fertiges stück, dennoch geeignet zum
vorhören und appetitmachen auf unsere neue platte, die
– ihr dachtet, ihr wüsste es längst, aber ihr werdet gleich
sehen, dass wir euch getäuscht haben – im frühjahr 2006
unter dem titel ‚139 … et un autre‘ erscheinen soll

gitarre (musima mhx 24n), pfeifen und zweiter gesang
(usha hoernes, kiel) wurden im frühjahr 2003 aufge-
nommen, der erste gesang im herbst 2005 nachgesetzt
 

‚weisst du‘ (premix 2005) (ogg; 3,3mb)


[ normale leute ]

Dezember 10th, 2005


 

wie schön ist das leben. oder wie grau ein morgen

die scheiben waren beschlagen und ich spürte den
abstand zwischen uns wie eine fortgezogene decke:
bring mich traurig in den tag

es wird ein wenig sein wie gestern
 

foto: normale leute (II)
darmstadt, luisenplatz, 21. oktober 2004


[ tourette ]

Dezember 9th, 2005

wäre es nicht einfach, einfach loszugehen? nein, sagt die inne-
re gesprächspartnerin, ist es nicht; und siehst du, schon wie-
der: du machst es eben immer so kompliziert

hinter den verstaubten scheiben von „peters treff“ blinkt eine
vorhanggirlande. weihnachten droht allerorten, sogar dort. die
obdachlosen halten ausschau schon nach den warmen in-
seln. und – weisst du noch? – hier sassen sogar wir einmal, wir
beide. silvester rückte zögerlich heran, es war so eisig, dass
meine füsse sicher ergeben mussten und um einkehr flehten, für
die dauer eines kaffees (oder so), eines tees (oder so), eben
etwas, das den lebenserhaltenden aufenthalt erlaubte, in der
tresengemeinschaft achtlos schlecht gekleideter, die tuschelnd
uns beäugten

aber jetzt ist anfang dezember (oder so), eine kahle mittags-
sonne schmeichelt dem ziegelrothässlich der hausfassade
nicht, scheint dezemberlich an den menschen vorbei, die in
autos vor der ampel sitzen, scheinwerfer eingeschaltet. draus-
sen ist stets weit entfernt

warum sich menschen hochhackige schuhe an ihre füsse bin-
den – frauen vornehmlich – mit denen jede bordsteinkante zur
hürde, jede gehwegmulde zur falle, jede kopfsteinpflasterstrek-
ke zum potentiellen live-end-point wird, werde ich, jeglicher
selbsttortour gegenüber tolerant, wohl nie verstehen. zumal
schweigend, mehrheitlich

du schmeichelst mir! befreit von allen regeln fegt ein fahrrad-
fahrer an mir vorbei über die rote fussgängerampel, quer
über die strasse davon, passantInnen mit dem ausruf schrek-
kend: du schmeichelst mir!

und doch: die sonne wärmt zart, als ich, stehen geblieben, sei-
ner wortspur nachlausche. es wäre doch so einfach, denke ich


[ manchmal … ]

Dezember 8th, 2005


 

hey. bin gerade auf einen stapel wunderbarer fotos von dir
gestossen. gehts dir gut? ganz liebe grüsse von unterwegs

(manchmal fehlst du mir)
 

foto: baba jaga (IV)
darmstadt, 23. april 2005


[ und immer ruff uff die leiche ]

Dezember 7th, 2005

nein, ich konnte ihn zum kotzen nicht ausste-
hen. dieses priesterliche pathos, dieses schnur-
deutschgezwungene reimen: widerlich. im alter
von achzig jahren ist er nun verschwiegen, der
‚kabarett-altmeister‘ hanns dieter hüsch


[ im focus: heinz wittmer ]

Dezember 6th, 2005


 

zu oft
brauchen wir
viele worte
um ein
ein einziges
zu sagen

freund
 

foto: im focus: heinz wittmer
heidelberg, 23. november 2005


[ libertär – oder: freiheit ist widerspruch ]

Dezember 5th, 2005

gesellschaftliche normen und ihre immanenten widersprüche
können aus allen teilen der bevölkerung heraus – nicht nur
priviligierten – ‚angegriffen‘, kritisiert und neu definiert werden

dies führt nicht zu chaos und zerstörung, sondern zu anar-
chistischer ‚ordnung‘ im sinne freiwilliger selbstorganisation
mit dem ziel gleichberechtigter gemeinschaft

der begriff der freiheit steht dabei stets im scheinbaren wider-
spruch zum kontext der sozialen bindungen. verkürzt dargestellt
heisst dies: freiheit ist widerspruch

freiheit ist streit. nur jene gesellschaft ist freiheitlich zu nen-
nen, die im offenen, im konstruktiven streit mit allen gliedern
bleibt

[ nachtfahrt ]

Dezember 4th, 2005


 

in der nacht nahmen wir die autobahn nach norden. kurz vor
der dänischen grenze wurde auf dem parkplatz einer raststätte
eine polizeikontrolle aufgebaut, durch die stunden später – wir
konnten es auf unserer rückfahrt von der gegenseite aus beob-
achten – der gesamte verkehr geleitet wurde. irgendwie sind
die verrückt geworden: deutschlands unart des jahres heisst
kontrollzwang

und mir war, als würde ich zu dir fahren. hinten im fond schlief
l. oder tat vielleicht nur so, resigniert vom tag. lichter zogen
vorbei wie bahnhöfe, das kaputte radlager klopfte wie eiserne
räder auf schienen, die mich zu dir brachten. du hattest am
bahnhof auf mich gewartet, spät war es geworden. wir stiegen
ins auto deiner mutter, kalt war es. fremd war es. schmerzvoll
war es gleich dem abschiednehmen. irgendwann spiegelt sich
das eigene gesicht in der scheibe, hinter der die zeit versinkt –

l. schlief noch immer oder tat vielleicht nur so. einen moment
lang fühlte ich mich wieder einsam. drehst du mir eine zigarette?
fragte c., warf mir seinen tabaksbeutel in den schoss, während
er mit einer hand krampfhaft das lenkrad umklammert hielt. wir
werden schon ankommen, dachte ich, irgendwann
 

foto: verwischte spuren
köln, 25. november 2005


[ post, nachgesandt und reklamiert ]

Dezember 3rd, 2005


 


to: xxxx@xxxx.de
date: fri, 02 dez 2005 20:02:25 +0100
subject: reklamation: die eingescannte post. und nun?
reply to: info@peryton.de

sehr verwerteter herr heinl

da haben sie mir verschiedene scans geschickt, genauer
derer vier, die sich teilweise bis zur deckungsgleichheit
ähneln. jahahaaaaa, habe ich gelacht – sie auch, gell?

aber man muss ja froh sein, in diesen zeiten, wenigstens
ein bisschen freude und abwechselung zu bekommen und
wenn es auch nur dem riechen am trocknen korken gleich-
kommt, der liegen gelassen und vergessen wurde, lang
schon vergessen

ach, sie finden mich heute sentimental; aber so schnell
gerät unsereiner ins melanchole schwärmen, wenn die
erinnerung anklopft mit den elektrisierenden signalen, wie
ehdem die gestapo. wie – ein vergleich, der unbotmässig
sei? nein nein, reden wir doch von heidelberg und der
post aus dieser stadt an mich, davon, dass mir die stadt-
verwaltung droht, weil irgendwer mich denunzierte, ja, wie
eben damals, als mein vater noch … aber wenn ich das
laut sage, was ich denke, bekomme ich auch noch ein
verfahren an den hals, wie jener alte mann, der in heidel-
berg vor kurzer zeit noch das nicht legitime vorgehen
zweier polizisten mit denen in der nazizeit verglich. zack –
haben sie ihn angezeigt, wegen beleidigung

und wegen beleidigung soll ich ja auch drankommen
– was jetzt ein anderes thema ist, dennoch – weil ich zwei
polizisten fragte, was sie mit dem scheinbar angetrun-
kenen machen wollte, da vor diesem café. sie erinnern
sich, waren ja selbst dabei, am 08. 09. 2005 gegen
19:45 uhr, in der bergheimer strasse, als mein zeuge
– was für ein glück. denn weil der eine polizist mir, aus
seinem auto springend, ‚aufs maul hauen‘ wollte, habe
ich ihn später angezeigt, wegen nötigung. seltsam, dass
meine anzeige nun in der heidelberger polizeidirektion
verschollen sein soll, wie mein anwalt erfuhr, auch noch
nicht mal bearbeitet wurde. dagegen fiel den beiden po-
lizisten ein, ich habe sie beleidigt – sowas ähnliches wie
‚polizisten sind schw…‘ soll ich gesagt haben; aber das
sage ich jetzt besser nicht. weil, sonst … sie ahnen si-
cher, was sonst. als ob ein veganer tiernamen in verun-
glimpfender weise dedizieren würde …

aber was mach ich nun mit dem anschreiben der stadt-
verwaltung heidelberg? ich solle mich anmelden, wo ich
doch gar nicht da wohne, wo das also gänzlich ohne
gegenstand ist und mir – verzeihen sie die grobe wahl
der worte – am arsch vorbeigeht, wie der letzte kaiser?
soll ich den trotteln hinterhergehn, nur weil jene losge-
laufen sind? – ach, nichts läge mir ferner

nachdenkliche grüsse sendet ihnen von unterwegs:
 

peryton