[ … oder über die dächer davon ]

Januar 11th, 2006


 

in jedem satz ein gebirge
ein fluss, ein tal, in dem ich
wandern kann, ohne weg
– natürlich barfuss –
jeder steg eine rettung
jeder schatten ein pfad
irgendwann sprichst du
mit flechten und mit steinen
 

foto: … oder über die dächer davon
berlin, 29. märz 2005


[ schneetreiben: neue kommentare ]

Januar 10th, 2006


„ich werde ich mich immer wieder streitbar äussern, sobald
sich mir die (manchmal traurige) gelegenheit dazu bietet. und
dabei zielt meine kritik stets besonders auf jene, die mir am
nächsten stehen, mich – selbstverständlich – eingeschlossen“

 

die diskussion zu den geschehnissen auf dem ‚jukss‘
schleppt sich voran, wird aber von den veranstalter-
Innen immerhin zur kenntnis genommen
 

nachtrag (11.04.2009)

simson hipp, der auf dem jukss auftretende sekten-
werber für „universelles leben“, ist bis heute weiter
aktiv. hier der link zu einer einer dokumentation über
„Verschwörungstheoretiker & Co. in der Jugendum-
weltbewegung“

der jukss selbst ging aus den zahlreichen diskussio-
nen über beeinflussung von sekten und sektenähn-
lichen gruppierungen nicht gestärkt hervor; zum jah-
reswechsel 2008/2009 fand der sogenannte „jugend-
umweltkongress“ in einer „freien waldorfschule“ in
franfurt/main statt …


[ harte tage ]

Januar 9th, 2006


 

hier: harte tage hinter nebelwänden
– ich rette mich in die cafés um mehr
zu sehn und bin doch weit entfernt

ob sie sich erinnern, an das gespräch
mit dem fremden?

die sonne fiel kalt über den place jean
jaures. es hatte den anschein, sie woll-
ten die herannahenden feierlichkeiten
ignorieren, alle gemeinsam, in unaus-
gesprochener einigkeit

ob sie sich erinnern, wenn sie alleine
sind, an ein gespräch mit dem fremden?
 

foto: am place jean jaures
marseille, 22. dezember 2005


[ geh zu ihr – 03. januar 2006 ]

Januar 8th, 2006

„lass uns jetzt nicht blöde sein. es ist ziemlich viel, was wir
verlieren und sehr viel, was wir für uns retten können. lass
uns etwas mut haben & kraft für veränderung. es regnet“

 

es taut. im gitarrenkoffer liegt eine postkarte ohne datum, le
pont metallique de tarassac, beschrieben mit grauer spur. ich
lege sie neben meine noten, trete dicht ans mikrophon heran

beginne für dich° zu singen
 

° – ogg; 5,5mb


[ pause machen ]

Januar 7th, 2006

„wie – du willst pause machen … du kannst das?“
 

ja klar. wenn ich mir das als termin eintrage …

doch, heute abend mache ich pause. werde nicht mehr ins
studio gehen. werde den rechner ausschalten, von dem
aus die letzten dringenden korrekturen auf der peryton-
homepage gemacht wurden. (ist sie nicht schön geworden??
los. sagt, dass sie schön ist. bitte) ich werde noch einen
kaffee aufsetzen und dann zu den freunden fahren, die
hoffentlich nicht vergessen haben, dass sie mich eingeladen
hatten

pause machen. geniessen, dass die arbeit getan ist. mich
am heute freuen, mich an gestern freuen, mich einfach auf
morgen freuen, weil morgen ein nächster tag kommt. mich
erinnern an die letzten projekte mit dem rapper ‚albino‘, der
gestern überpünktlich ins studio kam, als wir noch mitten-
drin im zurechtschneiden der gesangsparts waren – er kam
direkt von einer reise, obwohl er totmüde war und seine
stimme eigentlich ruhe gebraucht hätte (das klingt in der
aufnahme jetzt so schön absterbend, am ende. hach)
 

zum auffrischen eurer erinnerung – das war unser letztes
gemeinsames projekt: albino & peryton & nemo

‚relationen / genua‘ (ogg; 4,4mb)
 

und stop. kopf aus. pause


[ geschenke ein-, pfeile auspacken ]

Januar 6th, 2006

„T-Shirts zusammenlegen ist wie Geschenke einbacken:
Ich kann beides nicht (…) Drei Hemden brauchten gestern
sechzig Minuten. Mir gehts zu gut für diesen Blog, zur Zeit.“

 

ach, dem herrn gehts zu gut, ja?

vielleicht sollte ich mich mal wieder beschweren über die
qualität der einträge in deinem weblog, die das niveau der
unvermeidbaren niveaulosen kommentare nur noch wenig
übersteigen. oder mich öffentlich darüber wundern, dass
die selbstbeobachtung des verspiesserns dich weder zu
ermüden, noch zu beunruhigen scheint

willst du etwa auch noch mental in marburg ankommen?
einnischen bei den versoffen-verkrachten? bei den kunst-
lemmingen? einen stammplatz einnehmen an den billig-
tresen? (und ich kann tatsächlich fotos von dir liefern, an
einem solchen ort, jawoll, die hab ich noch!) willst du ver-
grauen zwischen farbentragenden° und am ende gar täg-
lich darüber berichten? oh niels …

aber nein, all das nicht: ich nehme mein gift zurück. ich
stecke den pfeil zurück in seinen köcher, der nur mich
selbst treffen soll in meiner frustration: es geht mir wohl
nicht gut genug, hier nicht zu schreiben
 

° – burschenschaftler


[ herz schweigt betroffen. an z*** ]

Januar 5th, 2006

z***, manchmal ist es richtig schwer. manchmal frage
ich mich, ob ich so wirklich weitermachen will (die
antwort ist immer ’nein‘). manchmal glaube ich, dass
ich es einfach nicht mehr schaffe. und dann kommt so
eine mail, wie deine heute morgen, und ich denke: doch
es gibt menschen, für die du schreibst. dann mach ich
weiter in der nächsten illusion, weil ich weitermachen
muss. was wäre die alternative? rund ist die erde und
der weg auf dem kreis unendlich

und weil ich gerade anfing über den heutigen tag zu
schimpfen, über meinen kratzenden hals vor lauter
ärger, vor lauter herunterschlucken besser nicht
gesagter worte, über die kratzende bitterkeit, über
meine müdigkeit, die den kopf leer macht, dass ich
nicht mal mehr meine texte für morgen vorbereiten
kann, da hab ich das geschimpfe wieder weggelöscht

kopf leer, zeilen leer, herz schweigt betroffen: ende

sei ganz lieb gegrüsst vom anderen ende des kreises
von irgendwo unterwegs – wenn ich mal weiss wo, dann
werde ich es dir sagen. (oder sagst du’s mir?)


[ studiotage ]

Januar 4th, 2006


 

so schnell kann selbstzufriedenheit ins gegenteil umkip-
pen: wir haben zwar die letzten aufnahmen zu ‚comme
à marseille‘
erledigt, aber dann kamen die üblichen kata-
strophen, die es immer wieder so anstrengend machen:
erst brachte der tonabnehmer von gitarre ‚peryton II‘, die
noch noch nie im studio eingesetzt wurde, nur ein rau-
schen zustande, das klanglich nicht wirklich befriedigen
konnte. dann übertrug der tonabnehmer von ‚peryton I‘
keine bässe mehr

zum glück war eine weitere gitarre einsetzbar, die über
vierzig jahre alte ‚lewin‘, die mich manchmal zu konzer-
ten begleitet
. sie ist schwer zu spielen, als ob sie beson-
ders beachtet und umsorgt sein wollte; aber wenn sie ins
klingen kommt, motiviert sie mich stets zu neuem. was
heute dazu geführt hat, dass ich änderungen am arrange-
ment vorgenommen habe und wir deshalb ein wenig ins
streiten kamen … die zeit ist knapp, der druck steigt an

morgen abend soll eine neue (die dritte) version unseres
‚chanraps‘ „geh zu ihr / überall“ eingespielt sein – sagt der
zeitplan. mal schauen, was bis dahin noch alles passiert
 

foto: peryton & mc albino live
tangermünde, 28. dezember 2004
aufnahme: jens grubert (c)


[ an euch ]

Januar 3rd, 2006


 

eingerahmt von nachrichten geliebter freunde erlebte ich
den zahlenwechsel dekadent: in (s)einer badewanne, ab-
geschirmt vom explosionslärm – draussen – mit sekt, mit
schokoladenkuchen und allerlei … belebender leckerei

ich grüsse, weil’s so freundlich ankam – und doch gut tat –
all jene noch einmal zurück und herzlichst auch die andern:
euch

kommt immer wieder hierher und geniesst, denn für euch
schreib ich, für euch sing ich, für euch erfind ich worte, je-
den tag
 

foto: ganz am anfang (mit claus b., olivia m.)
silvester 1979/1980
peryton-archiv


[ schneetreiben und abgeschmackte katastrophen ]

Januar 2nd, 2006

ihr wähnt mich noch im süden, dabei bin ich längst in
den norden geschliddert, auf umwegen. hatte meine
teilnahme auf dem jugendumweltkongress ‚jukss‘
verweigert mit dem schlagenden argument, dass das
eine jugend- nicht aber eine seniorenveranstaltung sei
– und traf bei einem zwischenstop ihn; nein, anders
herum: er mich. doch nach zwei tassen kaffee musste
ich leider weiter

kaum angekommen, im norden, brach eine schnee-
flut übers land. ich wachte auf in grönland, quälte das
auto wenige meter durch hohen schnee bis an einen
kleinen hang … und dort rodelte es davon, ohne zö-
gern, ohne halt bis in ein weiter unten geparktes au-
to. beul, sagte das und der besitzer, der vielleicht den
schrei seines babys vernommen hatte und alsbald
erschien, mutierte – so schloss ich aus seiner mimik –
zu einem verfechter der todesstrafe (was natürlich
nicht stimmt, hier aber gut hingepasst hat)

das alles mag uns ärgerlich erscheinen, doch lange
nicht erreicht es den rang der ‚katastrophe‘. zumal
du weisst: dem homo sapiens neuster zeit gelingt die
grösste katastrophe erst perfekt in selbstorganis-
ation. und weil er auf gewinn hin strebt, ist der erfolg
am schönsten, wenn er auf seine eigne seite fällt. was
kurz gefasst bedeutet, dass der beschissne wahrhaft
glücklich ist nur in der eignen scheisse

man kann über die aktivitäten der sekte ‚universelles
leben‘ nicht nur im deutschlandfunk hören; nein, ich
erfuhr gestern von einer art ‚ul-einsteige-seminar‘
auf dem ‚jukss‘. es macht mich wütend, weil und dass
es denen überhaupt gelingen konnte, dort ihr verloge-
nes zu wort zu erheben. ihr habt gelost, ihr nachwuchs-
linken! ihr habt versagt, die chance vertan, die neuen
grenzen dort zu setzen, wo sie gesetzt sein müssen

in meinen augen setzt ihr die tradition der alten fort
– und seid nicht besser. mein bittres kompliment!

ich frage mich, ob und wann das erfolgreiche ausbrei-
ten der anthroposophen, die länger etabliert, am öko-
markt erfolgreicher und in der gesellschaft besser ak-
zeptiert sind als ‚ul‘ – besonders in linksintellektuellen
kreisen – die marktmacht des (erklärtermassen nicht
veganen) anthroposophischen biolabels ‚demeter‘
sowie die lüge von der freiheit ihrer waldorf-taliban-
schulen endlich ein thema zum diskurs wird und end-
lich angriffsziel zum handeln; aber wie das aktuelle ge-
haben auf dem ‚jukss‘ befürchten lässt, wird es wohl
nicht

wie einfach war es doch bisher: öko war bio und bio
war gut … vorbei. überall ist gabi. oder rudi. oder ein
neuer papst. was sollen sie jetzt noch fressen, die
veggies, die selbstbestimmten, die links-emanzipiert-
bewegten und woran sollen sie noch glauben?

das neue jahr erwischt die jungen kalt mit alten kata-
strophen

(prost!)
 

nachträge (aktualisiert am 11.04.2009) findet ihr
hier


[ und ich gab ein wenig schwarz dazu ]

Januar 1st, 2006


 

grau? du meinst, das foto sei zu grau?

aber hast du nicht dies wunderliche
rot bemerkt – das war ganz von selbst
im bild, als ob der stein abfärbte, den
du um deinen hals trugst

also geb ich ein wenig schwarz dazu, in
deine schatten, damit sie lichter werden
 

foto: gottesgabe, 05. dezember 2005


[ irreal ]

Dezember 31st, 2005


 


an jedem dieser bahnhöfe habe ich bereits
auf dich gewartet. ich bin der dort sitzt, der
dort friert, der dort gespräche mit den tau-
ben führt oder mit fremden, die den fehler
machen, sich zu mir auf meine bank zu set-
zen. er wird ein teil meiner geschichte sein

 

die landschaft wird auf leinwänden vorbei-
gezogen, in strommastenschnitten flimmert
das bild, kino ohne ton in falschen farben

ich fahre nie mit dem zug; du kannst nicht
anhalten. erstes kapitel: marseille, zweites
kapitel aix en provence. drittes … aber du
kannst nicht anhalten. berge bilden kulissen
für bäume. für häuser. chalets. vorne bäu-
me, häuser, friedhöfe. dahinter landschafts-
hintergrundleinwand. immer so. niemals an-
ders

die häuser haben leere augen, scheinen
wintertot. tote gärten, tote hecken, tote stras-
sen. die dörfer am ende dieser strassen wer-
den von schienen berührt. aber du hälst dort
nicht an. aber du willst nicht wissen, wie die
luft schmeckt im ‚café à la gare‘ in nichts, wo
kein mensch wartet, einzig dein spiegelbild
in der getönten scheibe, das immer nur dir
selbst entgegenstarrt. du willst gar nicht an-
halten. deshalb fahre ich nie zug. deshalb ist
all das irreal

dass ich dir erzähle von mir und meinen rei-
sen. irreal. dass ich mich nach dir sehne. dass
dieses gefühl mich unruhig hält. irreal. dass ich
nicht auf dem weg zu dir und dennoch auf der
reise bin, immer weiter. dass ich dir erzähle
ohne dein ohr zu finden. oder dein herz. dass
ich erzähle dir, von dir, von mir, von augenblik-
ken, die niemals wirklichkeit gewesen sind aus-
serhalb meines erschöpfenden herzens

aber ich erkenne sie wieder: an jedem die-
ser bahnhöfe habe ich auf dich gewartet, ge-
stern, auf einer bank sitzend, und falls sich
ein reisender in meine nähe setzt, werde ich
von dir erzählen. werde anhalten, in den land-
schaften spazieren gehen wie in meiner erinne-
rung. werde erzählen von uns beiden, bis ich
ausgeschöpft bin, ein leerer bach bin, eine
blaue träne, ein vergessener tropfen atem
ganz nah an deinem mund, fortgeblasen
 

foto: gare maritime und port de la
joliette

marseille, 16. dezember 2005


[ die pinien ]

Dezember 30th, 2005


 

das meer schickt seine schatten durch
die nacht. sie branden an. sie wispern. sie
seufzen. ich kann sie hören, weil der wind
herüber weht vom strand, bevor er
schwarz hernieder sinkt am fusse
der pinien

das meer schickt seine schatten durch
die nacht. ich kann sie hören. sie seufzen. sie
kratzen mit krallen wie mit klingen. steine
rollen sich in ihren kehlen rund. sie legen ab
die leinen. sie legen jahre zu den anderen. sie
werfen sich hin wie blätter, wie blätter werfen
sie sich hin in ihre schatten. sie legen sich
nieder am fusse der pinien

schwarz stehen die bäume
vor einem himmel. schwarz. sie
wiegen sich im schlaf. höre: sie
schlafen. endlich schlafen sie
 

foto: blick über vauban nach osten
marseille, 19. dezember 2005


[ anfrage wegen jagdunwesens ]

Dezember 29th, 2005


to: b+n@xxx.net
date: thu, 08 dec 2005 18:23:35 +0100
subject: re: jagdrecht in nrw – wer kann uns helfen?
reply to: info@peryton.de

hallo b., hallo n.

ich verstehe sehr wohl eure empörung, nicht aber die
konsequenzen, die ihr persönlich daraus ziehen wollt,
nachdem ihr wortreich ‚luft abgelassen‘ habt

ihr schreibt:

„wir wollen keinen gerichtlich-juristischen streit vom
zaun brechen. da haben wir keine lust zu. aber: wir
wollen erreichen, dass die jäger auch unsere sorgen
und nöte ernst nehmen und uns gefälligst das nächste
mal rechtzeitig informieren, damit wir unsere freigän-
ger-katzen entsprechend ‚einholen‘ können. und wir
wollen, dass unser recht auf privatsphäre geachtet
sowie unser leben nicht in gefahr gebracht wird durch
umherballernde jäger, die sich darum offenbar keinen
kopf machen“

ihr werdet erkennen müssen, dass das staatssystem, in
dem ihr lebt, allgemein wenig freiraum für privatsphäre
lässt und wenn die ’staatsraison‘ es für nötig erachtet
auch gar keine; wenn ihr das geändert sehen wollt, müsst
ihr schon mehr tun, als streit zu vermeiden

zumal es beim von euch kritisierten verhalten der jagen-
den um grundsätzlicheres geht, als um eurer privates
glück bzw. ‚unser leben‘ und/oder nur das leben ‚eurer‘
katzen. jährlich werden in deutschland im zuge ganz nor-
malen jagdlichen treibens etwa 5 millionen tiere umge-
bracht. wie steht es denn damit? unwichtig?

oder soll ich eure anfrage so verstehen, das ihr eigent-
lich
etwas ändern wollt, aber das beklagte euch doch
nicht so beleidigt, dass das argument des ‚da haben wir
keine lust zu‘ ausreicht, eure höchstpersönliche ausein-
andersetzung an andere zu deligieren? (‚wir‘ sollen da
‚lust zu‘ haben???) auch dies kann ich mit einem klaren
’nein‘ beantworten: ich gehöre keiner partei an. das ge-
baren einer lobbydemokratie liegt mir fern – das vertreten
rein privater interessen ebenso

ich selbst kann euch daher nicht weiterhelfen. ihr habt
signalisiert, dass euch an einer änderung des grundsätz-
lichen nicht gelegen ist. wohl sieht das europäische recht
das übergreifen deutschen jagdrechts in das eigentums-
recht als unrechtmässig an – um diesen juristischen
missstand zu verändern, müsstet ihr aber auf juristisch-
em wege euren ‚heimatstaat‘ dazu zwingen, das überge-
ordnet geltende europäische recht anzuerkennen. aber
ihr wollt ja keinen streit

wenn die jäger das nächste mal über euer grundstück
laufen, wisst ihr also, dass sie das eigentlich nicht
dürfen – unabhängig davon, nein sogar im widerspruch
dazu, was euch die polizisten fälschlicherweise gesagt
haben (aber das tun die, wie ich euch versichern kann, in
99% der fälle) – zumal ihr sogar ein hausverbot erteilt
habt. (ob das allerdings juristisch durchsetzbar ist …
ernster zu nehmen ist vermutlich die tatsache, dass
gegen euren willen bewaffnete menschen euer grund-
stück betreten haben, womit der landfrieden in schwerer
weise gebrochen sein könnte. das ist juristisch wahr-
scheinlich viel interessanter) … aber selbst im besag-
ten wiederholungsfalle wäre mehr engagement von-
nöten, als jenes der konfliktvermeidung

kurz: demokratie fusst auf dem konstruktiven streit. und
freiheit ist ein sagenumwobenes ideal, das zu leben erst
möglich wird, wenn ich mir meinen eigenen standpunkt …
erstritten habe

ich denke, die wichtigsten fragen wurden euch beantwor-
tet, ich habe diese email aber an andere (tolerantere) mit
dem thema ‚jagd‘ vertraute weitergeleitet – und wünsche
euch alles erreichbare glück auf euren weiteren wegen

georg hemprich (peryton)


[ unscharf II ]

Dezember 28th, 2005


 

das unscharfe sehen reduziert auf
wesentliches; beredt allein ist das
verschwiegene

so schweige mir, müsste ich for-
dern; fürchte aber, dass du nicht
verstehst

träume mir, sage ich also, sicher
dir zu begegnen: ich täusche mich
von herzen
 

foto: unscharf (II)
köln, 25. november 2005


[ am place des moulins ]

Dezember 27th, 2005

eine ruhe liegt in den häuserschatten, die
mich niedersetzen lässt auf den schmalen
trottoir. meinen rücken gegen die sonnen-
warme hauswand gestemmt, richte ich
das schwere teleobjektiv der kamera in
den himmel, lasse die schweigenden möwen
im focus vorüberziehen ohne eine regung

die alten platanen halten ihre kahlen arme
ausgebreitet, bewahrend, so tragen sie die
stille

als ich weitergehe, taumelt ein ball vor mei-
ne füsse, ein kind springt hinterher. ich
trete den ball in seine richtung zurück, er
prallt gegen ein geparktes auto. das kind
erwidert meinen schuss, trifft ebenso ein
auto. ai, sagen wir gleichzeitig und lachen
uns an

auf der treppe abwärts blutlachen, rubin-
rot mit schwarzen rändern. deja vu


[ aller simple ]

Dezember 26th, 2005


 

ölschwere wärme. stampfen der maschinen. dröh-
nen. vibrieren. die passagiere scheinen in leuchten-
der erwartung, obwohl diese fahrt nur augenblicke
dauert – dennoch erinnert alles an eine schiffspas-
sage über die ostsee, sechzehn jahre zurück. ab-
surd, denke ich

kaum losgelassen, schrammt der bug ans andere
ufer. kinder drängen als erste von bord, ein jungen-
mutsprung über den sich schliessenden graben, blick
zurück, siegessicher und in erwartung mahnender
worte, die ausbleiben

die tür schwingt zurück, mir entgegen, ich erschrek-
ke, ahne dich dort unter den wartenden, die nach-
mittagssonne im haar, eine strähne fällt übers
gesicht herab, augen halb geschlossen gegen das
licht, den steten vorwurf im blick, doch irgendwo-
hin an mir vorbei: was willst du hier. nein

nein. appel un chat un chat: du bleibst ein traum


[ bof! noël éléctrique ]

Dezember 25th, 2005


 

die engel tragen falschen pelz und lack, sie lassen sich
bezahlen für das halleluja in den billigeren strassen
der cités, hart am rand, wo es keine märchen mehr
gibt, wo papa noël wie ein dieb in bröckelnden fassa-
den hängt

der weihnachtsbaum trägt rote plastiknadeln, die
tragen falschen schnee. die städte auf dem land
die dörfer eifern um den ersten rang quälenden
geschmacks: es blinkt und glitzert in girlanden, aus
lichterketten über strassenbreiten in elektrischen
kaskaden aller farben – marseille aber, die stolze
stadt am meer, hält edel sich zurück

wer seine ‚gratification de noël’° rechtzeitig ausbe-
zahlt bekam, der treibt über die nebenstrassen der
canebière, der prachtstrasse, der champs-elysées
des südens, geleitet von glocken der heilsarmee, vom
klagen der akkordeons, dem duft gebrannter man-
deln, lärmenden lockgeräuschen hell erleuchteter
ladengeschäfte, der schiebt sich durch die tempel des
lichts, getrieben von der hoffnung auf wenige bro-
samen unerschwinglichen konsums

vielleicht treibt er weiter zum alten hafen, setzt sein
kind ins karussell, leistet sich das rundenvergnügen
auf einer eislaufbahn, mühsam knöcheltiefen kunst-
schnee fuss vor fuss voranschiebend: marseille nimmt
das absonderliche als ein fest

bof! sagt der wagenbesitzer, rückt den zerknitterten
kotflügel in eine ihm akzeptable lage zurück. bof!
junge männer finden sich in chourmo-gruppen, tre-
ten einen ball oder zerspielen autoscheiben. bof! sagt
die cafébesucherin, auf deren po eine männerhand
klatschend zu liegen kommt – und lacht. bof! sagt
der clochard, der ein plakat entziffert, das tausend
euro strafe jedermann verspricht, der öffentlich in
strassen uriniert. bof! sage ich, als ich erneut in
hundescheisse trete – und sehne mich nach regen

hoch über allen lichtern dieser stadt erhängte papa
noël sich an balkonen


° – weihnachtliche sonderzahlung der staatlichen sozialkasse

 

foto: basilique notre dame de la garde über dem
roucas blanc

marseille, 19. dezember 2005


[ bekanntschaften III ]

Dezember 24th, 2005


 

du gingst an mir vorüber
in meinem traum, ohne
zeichen des erkennens

du trugst die nacht
um deine schultern gelegt
als einen mantel

löschtest die lichter aus
mit jedem schritt

vergisst du mich? rief
ich, vergisst du mich?

aber du hattest das
schweigen über meine worte
geschlagen

das band sie fest zu einem
bündel stroh, dorre blumen
des sommers
 

foto: am hotel de ville
marseille, 18. dezember 2005


[ non, maman! ]

Dezember 23rd, 2005

non. non. non … écoute: j’ai dit non, maman!

als ich den platz erreiche, höre ich erst sein
schimpfen, dann sehe ich ihn, auf und ab
laufend, ein ‚mobile‘ am ohr, sich mit jedem
ausruf energisch vorbeugend, als ob sie seine
worte dadurch besser verstehen könne und
wahrnehmen

ich schätze ihn auf ende dreissig. und strebe
an ihm vorbei einem strassencafé zu, vor dem
ein sonnenplatz frei geworden ist. bestelle ei-
nen kaffee, schlage das mitgebrachte exem-
plar der ‚flensburger hefte‘ auf, in dem rudolf
steiner, der begründer der anthroposophie zi-
tiert ist im wortreichen versuch, die steiner-
schen lehren vom geruch der unterstellten
nähe zum faschismus zu befreien


„Das französische ist das am wenigsten le-
bensfähige Element unter der romanischen
Bevölkerung Europas. Nun ist nicht zum we-
nigsten diese ganze Dekadenzerscheinung in-
nerhalb der französischen Volkskultur in der
Sprache deutlich bemerkbar [ … ] Sie wäre
diejenige, in der man, wenn ich mich paradox
aussprechen darf, in der ehrlichsten Weise
am leichtesten lügen kann. Sie eignet sich am
leichtesten dazu, dass man in der unbefangen-
sten, ehrlichsten Weise am meisten lügen
kann, weil sie keine rechte Verbindung mehr
hat mit der Innerlichkeit des Menschen.“

rudolf steiner (1923) – in: ‚flensburger hefte‘, heft 41
(6/93), s. 18 f. flensburger hefte verlag: flensburg (1993)


„Korrumpiert wird die Seele ganz sicher durch
den Gebrauch der französischen Sprache.“

rudolf steiner (1923) – (op. cit., s. 87)

vermutlich, herr steiner-unter-der-erde-und-
das-ist-gut-so, liebt meine verlogen-verruchte
künstlerseele gerade diese sprache mit ihren
speziellen ausdrucksmöglichkeiten emotiona-
ler kraft. oder sollte ich mich – ihro deutlich-
keit wegen – anthroposophischer sprachbelie-
bigkeit dergestalt bedienen: der wesenskörper
dieser sprache formte sich aus in welten-geist-
es-lichter einswerdung von herzenswärme und
seelenklang …?

aber zurück ins leben: ich sitze im dezember
2005 vor einem strassencafé am cours julien
(marseille) und schäme mich für bis heute am
leben gehaltene worte eines irren rassisten


„Wir leben heute im 4. Formzustand des 4.
Lebenszustandes des 4. Bewusstseinszustan-
des, also im 172. Formzustand von 343 mög-
lichen. Dies ist genau die Mitte der gesamten
Welten- bzw. Erdenentwicklung. Jeder Form-
zustand birgt in sich wiederum 7 sogenannte
Wurzelrassen bzw. Hauptzeiträume. Inner-
halb des 172. Formzustands sind dies die po-
larische, die hyperboräische, die lemurische, die
atlantische, die heutige Wurzelrasse (nachat-
lantische, auch arische genannt) sowie eine
kommende 6. und 7. Wurzelrasse.“

wolfgang weirauch (1993) – (op. cit., s. 57)

manche sätze müssen zitiert, öffentlich ge-
macht werden, um sie im licht der öffentlich-
keit ihrer absurden lächerlichkeit preis zu ge-
ben

„wie“ also – frage ich, den geistesführer zitier-
end, dem sich auf so unerklärbare weise men-
schen aller bildungsgrade selbst in der heuti-
gen zeit noch zu füssen werfen – „erlangt man
erkenntnisse der höheren welten?“

… monsieur? encore un café, s’il vous plaît! …