[ canale grande ]

April 5th, 2006


 

unter den steinbögen kauern schattig schwarze
träume, die fäule gärt, frisst mauerfugen aus, quillt
stinkend in den grachten auf, dass die touristen
frische luft sich fächeln und der gondoliere unbe-
kümmert seine fürze über ein jauchzendes publi-
kum bläst, in die kameras lächelnd: das macht
zehntausend lire extra. diese stadt sinkt mir unter
den füssen wie meine hoffnung, irgendwo zu blei-
ben. keine brücke steht zwischen all den häusern
 

foto: canale grande
peryton-archiv. venedig, 1988


[ dokumentation: staat zum kotzen ]

April 4th, 2006

wie ich erfahren habe, findet am 26. april 2006, 9:40
uhr im amtsgericht garmisch
unter dem vorsitz von
scharfrichter klarmann ein verfahren wegen sogenannter
„verunglimpfung des staates und seiner symbole“
statt. mein tip: hingehen!

nicht-wörtliches zitat aus dem strafbefehl an theresa b.:

„Am 14.05. 2005 gegen 22:16 hielten Sie sich auf dem
Bahnhofsvorplatz in Mittenwald auf. Zu diesem Zeitpunkt
fand dort ein Konzert statt. Auf Grund von Beschwerden
mehrerer Anwohner wegen überlauter Musik sollte die
Musik durch anwesende Polizeibeamte zu diesem Zeit-
punkt beendet werden. Daraufhin skandierten Sie laut
und für alle Umstehende hörbar „BRD, Bullenstaat, wir
haben Dich zum Kotzen satt“

Auf diese Weise wollten Sie die Bundesrepublik Deutsch-
land beschimpfen und Ihre Missachtung dieser gegenüber
zum Ausdruck bringen

Sie werden daher beschuldigt, öffentlich die BRD beschimpft
und böswillig verächtlich gemacht zu haben, strafbar als
Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole gemäß
§90 a Abs. 1 Nr 1 StGB

Gegen Sie wird eine Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen
verhängt. Der Tagessatz wird auf 20 Euro festgesetzt. Die
Geldstrafe beträgt somit 800 Euro“
 

peryton meint dazu: es lohnt der mühe nicht, sich über
staatswichser zu erregen. lohnend wird hingegen sein, das
verfahren und die sich daran anschliessenden zu verfolgen:
braune geier legen braune eier

weitere infos zur mittenwald-kampagne bei nadir.org


[ nach dem regen ]

April 3rd, 2006

sonntagabend. kirchenglocken. leute streben
von allen seiten ihren gotteshäusern zu. die
späte sonne hat alle dächer angezündet, nur
so zum schein. schade, denke ich, halleluja
wie schade


[ der apfel fault nicht weit vom stamm. oder: der erste april, der innenminister und die ungelösten fragen ]

April 2nd, 2006

der scharfe geruch, dessen ursache ich ergründe, kommt
aus der küche, gleichsam unangenehm wie die musik ei-
nes kultursenders: meine kaffeetasse steht vergessen auf
dem heissen ofen, an ihrem grund ein verkohlter rest ge-
zuckerter sojamilch. ja, es gibt morgende, die beginnen
genau so: april, april

ich war aus der küche geflohen, als im radio der innen-
minister zitiert wurde, der schäuble, der mit dem schuss
durch den rücken, der deshalb nicht mehr bundeskanzler
werden konnte, obwohl das eines seiner ziele war, da-
mals, vor dem attentat, aber in deutschland kriegt kein
krüppel einen solchen job, eigentlich, erst heute, wo so-
gar eine frau … also heute ist er propagandaminister, der
wolferl

was er damals im heimlichen betrieb oder besser, re-
lativ unbeobachtet, weil auch kein linker genauer hin-
schauen wollte, was er da trieb, denn was hätten sie
tun wollen, was tun können, was dagegen sagen, die
selber angstvoll gen süden starrenden, die reichen er-
ben, die hofften, dass irgendeiner – ein anderer – eine
lösung finden würde gegen die andrängenden schwar-
zen massen, gegen das problem der kulturellen über-
fremdung, die gefahr, das bequeme teilen zu müssen

… da schnitzte der schäuble also in heimlicher eintracht
mit allen an den aussengrenzen der europäischen frei-
heit am sogenannten ’schengener abkommen‘ und heute
kann er in aller öffentlichkeit seinen wahn ausleben, weil
sein wahn offener konsens geworden ist, ja, da darf so-
gar ein solcher krüppel reden, eine arme sau in den au-
gen der meisten, ein hochgucker, aber auch ein held, wenn
wir es genau betrachten wollen, in erfüllung seiner patrio-
tischen pflicht abgeschossen, ins kreuz geballert, und al-
so darf er heute reden, in seiner neuen funktion als innen-
minister, reden, wie wir es gewohnt sind von allen innen-
ministern der vergangenen jahrzehnte: offene worte, ge-
radeheraus, ohne anstandstüchlein vorm schneidigen
mund, mit hackenzusammenknallen und den braunrot-
gelben lappen aufziehend, jedesmal, gegen linksmoti-
vierte gewalttäter bei demonstrationen, gegen arabische
terroristen und also jetzt gegen angeblich gewalttätige
schülerInnen
: gewalttätige jugendliche spiegelten nur
eine gesellschaft wider, die es zunehmend versäume, kla-
re grenzen zu ziehen und die wichtige normen nicht ent-
schieden vorlebe und durchsetze – oder so ähnlich

um die fakten präzise zu umreissen, hätte er für meinen
geschmack nicht so viele worte benötigt: eine gewalttätige
jugend spiegelt die gesellschaft wieder, in der sie aufge-
wachsen ist. oder noch kürzer: der apfel fällt nicht weit
vom faulen stamm

aber zum glück sind die lösungen so einfach wie werte-
konform: polizisten gegen kinder einzusetzen ist in
deutschland ebenso legitim wie eine ausgangssperre
gegen kinder in frankreich. und die schuldfrage ist damit
ebenso geklärt wie die frage nach den lösungen: eine
gewalttätige jugend spiegelt eine gesellschaft wieder, in
der die grenzen der gewalt nicht recht gezogen wurden

was ich nun noch nicht recht verstanden habe – neben ihrer
position zu unter folter erpressten geständnissen, oder
was sie mit ‚die eine oder andere anpassung des rechts-
staats‘
meinen, oder mit einem satz wie ‚die rechts-
staatlichen grundsätze schliessen ja nicht aus, dass man
bestimmte freiheitsrechte einschränken kann‘
… ehrlich
gesagt überfällt mich da ein gruseln, das in die geschichte
weist – was ich also noch nicht recht verstanden habe, herr
goebbels: welche normen meinten sie eigentlich?


[ across the line ]

April 1st, 2006


 

dünenwegen folgend sinkt der fuss tief, gräser
liegen da, längs, vom wind bewegt, bevor die
böe eine stille bricht, atem nimmt, schneidend
im sommerlicht, ein letzter abstieg und dann
ist eine wüste erreicht, salzharter grund, grau
endlos, da hinten liegt das meer sagst du, un-
sichtbar, das ufer ist geflohen unserm blick. der
wind schmeckt nach traurigen wassern
 

_
 

und wir werden einen klebrigen talg zwischen
fingern reiben, einsam, weil der wind die worte
einsam macht, werden hinauslaufen, weit, un-
sicher, wann der rand erreicht ist, wann sind
die grenzen überschritten, wann ist der weg zu-
rück vergessen, wir werden umkehren, aneinan-
der geklammert, die herzen verschwiegen. wie
auf einem foto steht dein schemen in meiner
erinnerung
 

_
 

(across)
wie muss es gewesen
(the border)
sein im winter?
(line)
 

foto: peryton-archiv. amrum, 1984


[ unscharf III ]

März 30th, 2006


 

aber wer behauptet denn, ich sei zynisch? nein, halte ich
dagegen, in meinen betrachtungen vielleicht unscharf, das
eine
oder auch das andere mal. ja. ja sicher. wer könnte ob-
jektiv bleiben und ungerührt angesichts so vieler schatten?
kein mensch mit herz. was zynisch genannt wird, heisse ich
notwendige distanz. sonst müsste ich schiessen, bomben le-
gen, brücken sprengen; aber mein weg ist, wie du weisst, ein
anderer. der lässt die brücken stehn und herzen schlagen
 

foto: unscharf (III)
köln, 25. november 2005


[ kopfschütteln. ein kommentar ]

März 29th, 2006

vorweg eine warnung an die durchschnittlichen weblogleser-
Innen: der nachfolgende artikel ist wortreich und weitschwei-
end, behandelt in rasanter folge unterschiedliche themengebie-
te und ist, kurz gesagt, für ungeübte viel zu lang. ich entschul-
dige mich hiermit bei ihnen und verspreche demütig, morgen
wieder das gewohnte in leicht verdaulicher qualität zu liefern


„einige antispeziesistische schwarzkapuzis schütteln
den kopf über deine „ekelhafte geschichte einer ver-
gewaltigung“ (…) sie verstehen deine sprache nicht“

(kommentar zu den artikeln ‚das orakel‘ und ‚feuerkopf. eine
beschimpfung‘
)

ich danke für die hinweise zum unverständnis derer, die da
nicht verstehen. nicht allzu beruhigend finde ich, dass ich in
meiner steten verwunderung bestärkt bin. das schütteln des
kopfes scheint als ausfüllende tätigkeit für denselben begrif-
fen zu werden. immerhin: ich hatte bislang vermutet, die
befriedigendste aufgabe für jene köpfe sei das mehr oder
minder dekorative ausfüllen schwarzer kapuzen

ich werde also nicht verstanden. obwohl wir doch eine ge-
meinsame sprache sprechen. das ist, wie ich finde, sehr
bedauerlich. es tragisch zu nennen, wäre in der beurteilung
sicher in wenig hoch gegriffen. aber hängt das verständnis
von sprache nicht im wesentlichen mit dem unbeschränkten
gebrauch derselben zusammen? (auch wenn sie aus der
mode gekommen sind, wage ich begriffe wie ‚übung‘ und
‚freies spiel‘ anmerkend einzuwerfen)

mit der zunehmenden verfügbarkeit von mobilen telefonappa-
raten – auch in gewöhnlichen bevölkerungskreisen – wurde
die anzahl öffentlicher telefonzellen vermindert. was mit einer
derart starken abnahme der präsenz von telefonbüchern ein-
herging, dass sie inzwischen zu den begehrtesten sammel-
objekten in buchantiquariaten zählen. ja, wirklich

was ich damit sagen will? dass den meisten damit das letzte
stück lesestoff ausgegangen ist

eine verschwörung, vermuten wir vage aber zurecht, des sys-
tems, da uns, den verständlicherweise miserabel schulgebil-
deten kindern dieses systems, nicht viel mehr bleibt als vage
vermutung. aus dieser unwissenheit, unserem archaischen
wunsch nach einer überschaubarkeit unseres lebensraums
und dem heimlichen wunsch nach dem glück bürgerlicher be-
scheidung hat sich das denken zunehmend beschränkt auf
kurze formeln, das fordern beschränkt auf die parole, die in
ihrer sprachlichen verengung auf die halbe breite einer aldi-
tüte passt oder auf einen farbigen ansteckbutton. in schwarz-
rot. oder schwarz-grün. oder schwarz-pink. oder schwarz-
lila … ich will hier keine momentane vorliebe unbeachtet las-
sen, um mich nicht dem vorwurf der sexistischen, rassisti-
schen oder sonstwo gelagerten missachtung auszusetzen

denn wenn schon alle inhalte fehlen, ist doch die ‚politische
korrektheit‘ ein wert in der werteentblössten gesellschaft. o-
der soll ich erweiternd sagen ‚parallelgesellschaft’…? aber
wenn ich das tue, mache ich ein neues diskussionsfeld auf
und ich habe doch schon viel zu viel gesagt, nach dem ge-
schmack der buttonträgerInnen, der aldi-tüten-leserInnen
und sowieso dem gros der weblog-konsumentInnen: ich re-
de zuviel. und alles nur, weil ich die worte liebe

autsch. das war gemein. geradezu bösartig. ich erkenne mei-
ne schuld an, ziehe räumütig die schwarze kapuze ab oder
tiefer in die stirn und flehe hiermit bei den wenigen um verge-
bung, die ich ungerechtfertigterweise beleidigt haben könnte
… und fordere sogleich ‚freiheit in den kopf‘ – denn dort, wo
an ihr mangelt, ist sie zu fordern – wissend, damit viele vor
das gleiche ding zu stossen, die zuallererst ‚freiheit für die tie-
re‘ fordern, rufen, schreien – unter kapuzen

muss ich abschliessend erwähnen, dass dieser kommentar
in der sparte ’satire‘ abzuheften ist? und ist es noch notwen-
dig ausführen, warum meine artikel nicht verschiedenen ‚cate-
gories‘ zugeordnet werden, obwohl das in weblogs allgemein
üblich ist? bitte – bitte !!! – antwortet jetzt mit einem kraftvollen
’nein‘. dann wäre ein erstes annähern erreicht und die gemein-
same sprache hätte wieder einen sinn


[ 27. märz 2006 ]

März 28th, 2006

sie ist älter geworden und es steht ihr gut. dir auch
sagt sie; weil sie das leichthin antwortet, finde ich
mich bestätigt

sie glaubt, in den ruinen einen tunnel unter dem
fluss entdeckt zu haben. lass uns hinübergehen
sagt sie. ihre hand weist nach osten, zum anderen
ufer. in der mediterranen mittagssonne flirrt die luft
über dem staubgrauen tal. es ist ein grossartiger
anblick, der tief einatmen lässt. die freiheit liegt vor
uns, aufgebrochen sind die grenzen und es ist eine
ungekannte leichtigkeit in ihrem blick. zum ersten
mal vertraue ich ihr ohne zweifel

gleich; gleich fall ich in ihre augen, denke ich und
wache auf

[ feuerkopf. eine beschimpfung ]

März 27th, 2006

– guten morgen! sozialer wohnungsbau macht flexibel –
 

ab heute ist wieder die zeit verdreht. die wahlbeteiligung
ist niedrig, sagt das dunkelhaarige frollein im radio, ich
gähne. das liegt nicht nur daran, dass die wahllokale nur
über müllbarrieren zu erreichen sind. hier ist doch alles in
ordnung, meinte ein freund letzthin, bei uns in frankreich
wären die haufen längst angezündet, scheissegal, ob das
haus daneben gleich mit abfackelt: bof! und er lachte

dass die erfinder der demokratie wahlen verordneten, um
revolutionsgewitter im reagenzglas zu halten, ist eine alte
erkenntnis, über die zu philosophieren nicht lohnt. nicht heu-
te. aber dass nahezu keine reaktion auf meine ekelhafte
geschichte einer vergewaltigung
kommt, kein wort des
widerspruchs, keinerlei kritische nachfrage … das fasse ich
nicht. wollt ihr’s ausführlicher, blutiger, lauter, damit es
direkt ins auge fällt, tiefer schneidet, besser schmerzt? wollt
ihr’s mit vater und tochter, mutter und sohn, bruder und
schwester? ich fasse es nicht. die gegenwart von brutalität
scheint so gewohnt, wie die abwesenheit von freiheit in
eurer demokratie. und ebenso gewohnt wie das schweigen
darüber. ruhe ist die erste bürgerpflicht

ich färbe mir die haare rot, proste dem spiegelbild mit einer
tasse kaffee zu, fluche ’sommerzeit‘ aus dem fenster. unge-
rührt wäscht der frühlingstag meine spucke durch den rinn-
stein fort
 

foto: darmstadt, 18. februar 2006


[ fest.gehalten ]

März 26th, 2006


 

fest vertäut liegt treibgut am hafen. eis-
krusten liegen schuppig auf der wasserhaut
zerbrechen leise, aneinander reibend. die
töne sind eingefroren, nur kinderstimmen
sind erlaubt (die hüpfen oben an der kai-
mauer vorbei) und einsame möwen, weiter
draussen auf pfählen vergangener jahr-
hunderte sitzend. die schiffe rosten un-
bewegt ihrem vergessen zu, nicht einmal
an den tauen zerren sie; dass sie nicht
los kommen, wissen sie. über der roten
mauer liegt die stadt im koma

fest.gehalten

die zeit ist eingefroren, die möwen sind
hingemalt und das eis unter der tiefen
sonne glitzert seinem tod entgegen
 

foto: fest.gehalten
tangermünde, 27. februar 2006


[ … mit behinderungen ist zu rechnen … ]

März 25th, 2006


 

ich muss ein wenig umbauen auf der hauptseite. im blog. und
wenn alle mp3s endlich rausgeflogen sind, werden ’nur noch‘
audio-dateien im format ‚ogg‘ zum download angeboten (was
euch die bessere qualität sichert und mir keine probleme mit
nutzungsrechten bringt). bis es soweit ist, werde ich vermutlich
hier und da und dort die falschen dateien gelöscht, die falschen
links angegeben haben und sowieso wird – für die meckerer un-
ter euch – nichts mehr so schön und gut sein wie vorher. so ist
es nämlich immer. ihr kennt diese unerbittlichen kommentare
ja …

nehmt’s mit fassung, ich mache es schliesslich nur für euch (was
natürlich ohne die leiseste schamesröte herausgelogen ist, a-
ber immer wieder nett klingt)

also: im bereich der peryton-baustelle ist in den nächsten tagen
mit leichten behinderungen zu rechnen …

(und wenn ich alles geschafft hab, antworte ich auch wieder auf
die liegengebliebene post. ehrlich!)
 

foto: baustellen-seite der ersten peryton-homepage
peryton-archiv. 25. februar 2003


[ bertoldsbrunnen ]

März 24th, 2006

schnell festgehalten sind der morgen, die auffahrt zur auto-
bahn, der hochgewirbelte stein, mit dumpfem schlag auftref-
fend, die zersplitterte frontscheibe, der den augenblick ver-
wirrende schreck, die mit dem zug fortgesetzte fahrt – bis hier
reichen kurze worte

nachmittags am bertoldsbrunnen. ich warte auf die strassen-
bahn. bunt und barfuss sein, heisst angestarrt werden wie ein
weltenwunder des absurden. ich lasse alle blicke im nebel des
vorübergehenden. da vorne eine tänzelnde bewegung, turn-
schuhschritte, verwaschene jeans, eine jacke, über der schul-
ter eine tasche, aus der verhüllte gegenstände ragen, ein von
der bauchigen mütze wursthaariger gehaltener hinterschopf
… und dann ist sie nach rechts meinem blickfeld entglitten

in der bahn stellt sie sich mir gegenüber auf, schaut mich ge-
radewegs an. ich kann ihrem blick nicht standhalten. starre
an ihr vorbei, starre irgendwohin, beobachte sie doch. ihr
helles, bald bleich zu nennendes gesicht, feine, fast unsicht-
bare augenbrauen und diese nase, diese lange, erfahrene na-
se, die mich anzieht. natürlich nicht. natürlich betrachte ich
meine füsse, meine jackenknöpfe, meine umgebung, schaue
auf die vorbeiziehende strasse – und da ist mein ziel erreicht

ich steige aus, sie fährt weiter, irgendwie bin ich erleichtert

erleichtert?

ich bin mir nicht sicher

ich bin mir gar nicht mehr so sicher

vielleicht. vielleicht fühle ich mich wirklich erleichtert


[ das orakel ]

März 21st, 2006

mit dem flügelschlag der taube drang das geräusch des regens
in meinen traum, weckte mich mit den tränen des allhöchsten
himmels, traurig weiterträumend den alb vom orakel

sie war eine zerknitterte alte frau, damals schon, obwohl in der
sogenannten blüte ihrer jahre stehend, verlassen von allen gu-
ten geistern, wie man sagt, aber wohl geborgen lebend im kreise
einer gemeinschaft, nicht ganz so züchtig, wie es sittsam gewe-
sen wäre, aber es war eben eine wilde zeit, damals, die bis in die
hintersten winkel bayerns hineinwirkte. dazu lebte sie tief einge-
bettet in die traditionen dieses landes, in dem der aberglaube
ebenso fest verankert ist, wie der glaube an die oberste gottheit
in einer ewigen volksseele, die bis heute zur hymne an den kaiser
marschiert, mit dem starken rechten bein den takt tretend. eines
tages drehte sie durch, wenn man so sagen kann: sie hörte die
stimme ihres herrn. ja, so war es wirklich. ganz nah war er zu ihr
getreten, angerufen hatte er sie und dann hatte er sie genomm-
en, war er in sie gekommen wie einst in die jungfrau maria und
sie spürte seine säfte fliessen, durch ihre heilige scham, durch
ihre lippen fliessen, in sie hinein, oh mein gott, sagte sie, aber
nein, das durfte sie nicht, das wollte sie nicht, doch war es ihr
gott, der von ihr besitz genommen hatte und dann machte er sie
stumm, dann sprach er aus ihr heraus, unaufhaltsam, machte sie
zum sprudelnden quell heiliger worte und weil sie ein armes weib
gewesen, gottesfürchtig, schuldbeladen, glaubte sie an das, was
ihr da widerfahren war

ihre kommunarden, die in jener zeit allerdings nicht die revolution
der welt zum ziel, sondern im gegenteil die ausbeutung derselben
im sinn hatten, erkannten schnell die wunderlichen ergüsse ihrer
kumpanin als gewinnverheissende geschäftsgrundlage und be-
gannen die mine auszubeuten, die so unverhofft in ihren besitz
gekommen war. sie bauten ein imperium um ‚das orakel‘ – so
wurde sie bald genannt – und die menschen strömten heran, folg-
ten wie einst hänsel und gretel der durchgeknallten alten in den
wald, denn je dümmer das gemüt, desto mehr liebt es das okkulte

die jahre vergingen. die am leim des versprechens hängenge-
bliebenen zehrten sich aus in blinder hoffnung auf ein ewiges
leben, das doch immer in der ferne liegen sollte, das orakel-im-
perium wuchs und wuchs, doch die alte wurde zunehmend ge-
brechlich. ihre gesalbten reden, die sie in psychotischen schüben
der trance von sich liess, wurden auf tonbänder aufgenommen
und füllten lange regale, sie wurden ausgestreut in die welt via
telefon, via kurzwellenradio oder durch das inzwischen modern
gewordene netz der computer, aber das ende nahte drohend. im-
mer öfter mussten die zittrigen lippen gottes in eine klinik gebracht
werden, wo sie stieren blicks den studenten vorgeführt wurde: und
hier sehen sie das bekannte orakel oder besser das, was von ihm
übrig blieb …

oh nein, das war nicht schön. das imperium wankte. die suche
nach einer nachfolgerin aus dem engsten kreis der sie umge-
benden scheiterte; das charisma des originals, ihre inbrunst im
wahn, ihre schönheit unterm würgegriff des gottes erreichte keine

bis sie endgültig zusammenbrach, eines tages, und ich an ihrem
bett stand, eingeschlichen, in der heimlichen dunkelheit einer ver-
borgenen krankenstation, als ich ihre hand hielt, verbotenerweise
die vertrocknete hand einer ausgezehrten, ausgemolkenen, einer
verstummten, verblödeten, ihren welten gänzlich entrückten, ein-
gesunken in weisse laken, als ich ihr sagte, dass sie nun loslas-
sen und gehen könne ohne schuld, da machte sie einen tonlosen
seufzer, zog ihre hand aus der meinen und erhob sich leicht, fe-
derleicht, ja, sie flatterte davon als eine dirndltragende taube. ein
wunder, sagten die leute später

was für ein scheiss, sagte ich und wachte auf. vom fensterbrett
stürzte sich eine taube gurrend in die tiefe, während der regen
mit deprimierender gleichförmigkeit herabströmte

ja

und nun wischt eure tränen fort. das war ein hässlicher traum. ein
traum, hört ihr?

soviel brutalität, besessenheit, berechnung wie auch dummheit
kann diese erde nicht bevölkern, dass ähnliches sich in wirklich-
keit ereignen könnte, nicht heute, nicht in den phantasielosesten
ghettozeiten deutscher fussballkultur, nicht im götterbrünstigen
vatikan, nicht einmal im blauweissen lodenglück bayerns. es gibt
keine ähnlichkeit mit lebenden oder gestorbenen menschen in
meinem traum. nein, keine ähnlichkeiten. das letzte orakel, von
dem die legenden erzählen, erstickte in delphi, lang her ist’s und
ebenso sicher gelogen, am giftigen rauch aufgebrannter sklaven-
häute. oder an einem schlechten, viel zu dicken joint. und das ist
gut so


[ frühlingsanfang ]

März 20th, 2006


 

und mit einem mal bricht alles auf

es knirscht brünstig in den knospen
es setzt sich schleifchen auf, krönt
sich mit papier, hochgewirbelt aus
dem müll der strassen, es neigt sich
den tauben zu, die in eile sind und
den blinden, die zögernd verweilen
 

foto: am place jean jaures
marseille, 22. dezember 2005

[ heute hier ]

März 18th, 2006

katzenwäsche, zähneputzen, endlich ins bett fallen können. andere
schütteln jetzt resigniert ihre wecker und stehen auf. in meinem
kopf dröhnt das rollen der räder nach. gräue vor dem fenster. der
wechsel von der nacht zum tag ist mir jedesmal ein besonderes
erlebnis. sogar auf der autobahn. sogar dann, wenn die kilometer
zur qual werden, weil die augen zufallen. wenn das letzte bild ste-
hen bleibt, der film anhält, eine stille daraus fliesst, die vorher
fehlte. und solange ich das merke, werde ich ankommen. heute
hier, übermorgen dort. dazwischen steht das erinnern, heraus-
wachsend aus lichter werdendem grau, wie ein neuer morgen


[ mangomorgen ]

März 17th, 2006

das morgenlicht liegt grau über der eisschicht auf dem fenster
der dachschräge. mit lautem geräusch schaltet sich mein telefon
aus, akku leer. und ich bin wach, schaue auf rote wände. mango-
morgen

je länger wir um den frühstückstisch herumsassen, desto mehr
wurden wir. du warst nicht erschienen. du warst kein gesprächs-
thema. du warst nicht einmal eingeladen. als es an der tür kling-
elte, war es der unfreundliche hausverwalter, der den block-
wart gab, auf kontrollgang: zack zack! … ach ja: wo ich auch
hinkomme, ist deutschland schon da

ob ich den mut habe, dir zu schreiben, wie sehr du mir fehlst?

ich habe nicht


[ kopfarchiv III ]

März 16th, 2006


 

weil uns die träume sterben wollen mit den jubiläen
war dieser schmerz vergebens. es ist uns leichter
wenn die zeit des welkens unbemerkt verweht
 

foto: irgendwo in oberschwaben, ca. 1984


[ kopfarchiv II ]

März 15th, 2006

ein zweites foto blättert auf in meinem kopfarchiv: das
stille haus am waldrand, das eines tages unter einer
last von schnee zerbrochen war. als ich es sah, zerbarst
in mir ein traum. so gross die worte heute klingen, war
mein schmerz. und dumm war er gewesen, weil uns die
träume sterben müssen mit den jubiläen


[ kopfarchiv ]

März 14th, 2006


 

die grelle sonne trügt den ersten blick, die satten töne
auch. es muss gewesen sein im sommer dieses jahres
wohl anfang juli 1986, am vortag waren wir von norden
angereist, erinnere ich mich

der zweite blick lässt tiefer schaun, er gibt dem laub die
farben des erkennens wieder: dass diesem warten alle
freiheit fern ist. die augen schauen ernst, hinter den
dunklen gläsern. in jener zeit erklangen meine lieder
sehnsuchtsschwer vom abschied; aber der blieb aus

es reichte mir der mut nicht, über viele jahre
 

foto: meersburg/bodensee, 1986
aufnahme: i. freund


[ am ende ein meer ]

März 13th, 2006

du malst ein meer
ohne antwort ist die frage schwer
am ende meiner gedanken

die frage ist schwer ohne antwort du malst ein
meer die frage ist schwer am ende ein meer
ein wal wird geboren im zitronenmeer

die frage ist schwer ohne antwort malst du am ende
meiner gedanken wird ein wal geboren die frage
schwer die antwort am ende

die frage ist schwer ohne antwort am ende meiner
gedanken malst du ein zitronenwal wird geboren die
frage und die antwort am ende der gedanken

am ende ein meer du
malst in meinen
gedanken