[ dreizehnter tag ]

Dezember 24th, 2007

„mein dasein ist ein balanceakt auf der schmalen
linie zwischen der person, die zu sein man von mir
erwartet, und jener, die sich hinter ihrem äusseren
selbst verbirgt, um das alte tief in mir zu bewahren.“

(larry woiwock: ein stern, ein stein – staub)

es ist wohl angenehmer, über gras zu laufen als auf
asphalt, sagt sie, während sie, von kurzen pausen
unterbrochen, auf einer tastatur tippt, wenige zei-
chen nur, die pausen scheinen ihr bekannt, möglich-
erweise die verarbeitungszeiten eines datenverarbei-
tungsprogramms, vorgaben einer eingabemaske, na-
me des/der patienten/in, codenummer und so fort

auf meinen fragenden blick hin – unter behutsamer
drehung meines kopfes – gibt sie mir für einen au-
genblick ein lächeln. dann ist sie wieder dem bild-
schirm zugewandt: ich habe sie heute morgen vor-
beigehen sehen, unter den bäumen. und sie deutet
mit einem aufnicken zum fenster hin

was hat sie gesehen, denke ich – erschrecken, aber
ihr gesicht verrät nichts. einen moment lang hatte
ich mich beobachtet gefühlt, als ich den weg ver-
liess, um unter kiefern über moos und zweige zu
gehen, rauhreifbedeckt, um allein zu sein, um den
tränen ihren lauf lassen zu können, ohne dabei ge-
sehen zu werden, ohne nachfrage, ohne rechtfer-
tigung, ohne erklärung. ich war gegangen, um all-
ein zu sein

was in meinem kopf alles drinsteckt, wollen sie auch
nicht haben, sagt die frau zum bildschirm, dessen
bläuliches licht sie blasser erscheinen lässt; ihr la-
chen klingt unfroh und gibt ihren worten den schat-
ten einer erkenntnis, einem fremden menschen ge-
genüber ausgesprochen, den nicht mehr zu treffen
sie sicher ist. augen schliessen, sagt sie, und au-
gen wieder auf (- schweigen -) augen schliessen
(- schweigen -) und jetzt etwas kräftiger atmen

ich atme etwas kräftiger


[ elfter tag (II) ]

Dezember 23rd, 2007

n., in real life mir unbekannt, stellt sich auf, dreht
sich hin, zeigt sich her, posiert vor menschenhohen
spiegeln, die später mit tüchern abgehängt sind

und es überrascht mich nicht mehr, dergestalt im
traum besucht zu werden; ebenfalls in der heutigen
nacht: w. wir kochen, wir essen, wir kosten ein ge-
fühl von vergangenheit aus. ja, da ist ein bedauern
zwischen uns. keine trauer, nein, ein beiderseitiges
empfinden, wir hätten uns nicht genügt; dass wir
stranden mussten im zu flachen wasser

aufgewacht – aufgeschreckt – fühle ich diesem ge-
danken hinterher: peryton schreibt, ich schweige


[ elfter tag ]

Dezember 22nd, 2007

„malen sie ihr erstes problembild“

taub sind meine hände, sie halten mein gesicht. das
weiss des papiers starrt mich an. die unterhaltungen
der anderen, ihre geräusche der betriebsamkeit, das
klappern und klirren ihrer pinsel in den wassergefäs-
sen macht mich bald wahnsinnig. doch dann: ein ro-
ter kreis. ein tunnel. ein glühender planet, azentrisch
in schwarzer unendlichkeit hängend. nach dem trock-
nen erscheint der flächige grund nur noch unregel-
mässig grau, zu den rändern hin ausgefranst, heller

– sie haben eine interessante form hineingemalt, dort
oben, sehen sie? beinahe wie ein engel. (eine stimme
aus der gruppe: oh ja, eine fee!)

– es sollte komplett schwarz werden; aber die zeit
hat nicht gereicht zum fertigpinseln
– es kommt nicht immer auf das bewusst hingemalte
an; machmal passiert so etwas unbewusst

tatsächlich: da, rechts oben; eine wässrige kontur
ist zu erkennen, ein phantomhaftes schemen, elfen-
gleich eine frauengestalt. gleichwohl: ich male keine
‚engel‘. zwei, drei sätze gehen hin und her, erwide-
rungen, mutmassungen; aber (auch) dieses problem
bleibt unaufgelöst. die stunde ist um


[ zehnter tag ]

Dezember 21st, 2007

„où es-tu, chère amie? deine nähe wäre jetzt so
gut. es ist … schwierig. ich halte (mich) an er-
innerungen fest: glück und unglück zugleich. und
habe riesenprobleme mit dem, was ’normal‘ sein
soll – in jedem augenblick; dorthin kann, dorthin
will ich nicht. du fehlst hier und mir (auch) als
ein zärtlicher beweis für das leben“


[ achter tag ]

Dezember 20th, 2007

„wir haben hier die vereinbarung, während der
dauer der therapie keine lebensentscheidenden
veränderungen vorzunehmen: keine heirat, kei-
ne scheidung, kein verlieben, keinen wohnungs-
wechsel“
– kurze pause – „und keinen suizid“

ich lache


[ sechster tag ]

Dezember 16th, 2007

im bad ist raum für traurigsein. heimlich. (sei leise.)


[ fünfter tag ]

Dezember 15th, 2007

schliessen sie nun die hand, befiehlt eine unange-
nehme stimme, aussen. die hand schliessen, sagt
der kopf. fester. fester. halten. (es schmerzt.) lang-
sam öffnen. öffnen. ich kann nicht, sagt der kopf

loslassen, sagt der kopf. ich kann nicht loslassen
sagt der kopf. (ich kann nicht loslassen.) die hand
öffnet sich. etwas geht. etwas entweicht. etwas
geht hinaus. ich will nicht loslassen, sagt der kopf

(etwas geht mir verloren.)

loslassen. ich kann nicht. loslassen. (ich kann
nicht.
) tränen rinnen mir übers gesicht, lautlos

(ich will nicht, dass sie es sehen.)


[ einer fliegt über das kuckucksnest ]

Dezember 6th, 2007

offline. out of time. not available. ab zehnten
dezember stationäres leben. to reset. to re-
boot. endlich vernünftig gegen alle vernunft


[ who is who ]

Dezember 5th, 2007

was kannst du sagen, über dich, beim morgend-
lichen who is who, wenn dir der regen spiegel ist

und auch die pfützen, wenn dir die seele aus dem
leib zwischen die himmel-hölle-pflastertritte rinnt

ich schreibe mir das leben hin und in die lücken
lügen. ich weiss es – oder besser – nicht. ihr auch


[ nachbarschaften ]

Dezember 4th, 2007

„… und ich bin so nervös, wenn ich mir vorstelle
auf der bühne zu stehen … hast du mundharmo-
nika geübt? ich geb dir zwei monate … du musst
dir u_n_b_e_d_i_n_g_t mein neues lied anhören“

das buch liest sich auf den ersten seiten so müh-
sam, dass ich beschliesse, mich nicht weiter zu
quälen. zuklappen. ein schluck kaffee, schräger
blick zum nachbartisch, an dem eine frau auf ei-
ne zweite einspricht. „ich weiss gar nicht, was ich
anziehen soll. meine lackschühchen?“
sie hat ei-
nen asiatischen gesichtsschnitt, raucht in schnel-
len zügen, stösst ihre zigarette hektisch auf den
rand des aschenbechers. „… das schwarze kleid-
chen?“
längst habe ich begriffen, dass dies leben
besser ist als ein schlechter roman mit schlech-
ten rollen und schlechten dialogen. „ich möchte
nicht zu viele gecoverte sachen singen … meine
mammi hat sich voll gefreut“
. ja, so klingt das
wohl, wenn girlies grösser werden, wenn sie ihre
weissen stiefelchen gegen spitze schwarze tau-
schen, wenn sie ihren alkohol selber bestellen
dürfen – und wenn sie’s tun. „dann kommen alle
nur um m_i_c_h zu sehen“
. eine mischung aus
abscheu und dankbarkeit überfällt und über-
rascht mich. bin ich etwa neidisch? drei ampel-
phasen spiegeln draussen auf nassem asphalt
wieder. hinter der schwach beleuchteten scheibe
zu „peters treff“ sitzen unbewegte schemen an
einem hingedachten tresen, schräg darüber, im
zweiten stock, die silouette einer frau, eine lich-
terkette in ihr fenster klebend, notsignale ihrer
einsamkeit über den strassenwüsten dieser stadt

auch dort, denke ich, keine heimat. und: ich bin
neidisch – auf das grosse mass an kindlicher nai-
vität, die mir abhanden kam, zwischen den büh-
nen, in den pausen, zwischen dem geträumten
applaus und den nachbarschaften, die unaufhalt-
sam erwachsen wurden, fremd und vergessen


[ online. daytime. available ]

Dezember 2nd, 2007

ich weiss nicht, was du machen sollst, sage ich

eben hatte ich beschlossen, dass der tag begin-
nen muss, dass herumwälzen im bett keine pro-
bleme löst, dass die lösung nicht im träumen lie-
gen bleiben kann – und schaltete das telefon ein

online. daytime. available. ich weiss nicht, was
du machen sollst, sage ich. ihre fragen sind mei-
ne, beinah, fünfundzwanzig jahre kleiner sind sie

ohne heimat sein hat kein alter, kein land, keinen
grund und kein ufer. ich weiss es nicht, sage ich


[ blacklist ]

Dezember 1st, 2007

ich habe meinen spamfilter überarbeitet; was be-
deutet, dass weniger post bei mir ankommt. und
das tut gut. nein, tatsächlich, es erleichtert, auf
bestimmte emails nicht mehr antworten zu müs-
sen
– sie kommen nicht mehr an. der druck ist weg

ob ich die betroffenen darüber informieren sollte?

früher hätte ich sowas gemacht; aus dem gefühl
schlechten gewissens heraus. auch das: vorbei


[ … ]

November 30th, 2007

auch über diese spezielle form der sprachlosigkeit
sprachen wir, das erzwungene schweigen; dass es
so viel mut nimmt. so viel … so viel … ja, das: leben

– ich überlege umzuziehen
– weshalb zögerst du?
– weil ich nicht weiss, wie es dann weitergehen kann


[ heute: augenblicke. bald: den schnee ]

November 28th, 2007

die augenblicke halten nicht länger als für diesen; im westen
fällt der himmel in blutigen streifen herab. es wird regen ge-
ben, sagen sie, und schnee. umso dicker ist das fell, das ich
umarme, in das ich mein gesicht grabe und meine zähne, er-
de ausspuckend und trockenes gras, weinend, lachend und
die erinnerung fest in der klammer meiner hände gehalten


[ stasi – ein deutsches problem. polemik ]

November 24th, 2007


 

so oder ähnlich sehen zivilpolizisten von weitem aus. igitt

hineingezoomt in die strutzdeutschen fressen, sehen wir
abschreckende beispiele dafür, was der dienst am staat
aus jenen zu machen vermag, die zuvor menschen waren:
 


 

foto: stasi in zivil, anlässlich der „8. antispeziesisti-
schen nord-demo gegen den pelzhandel bei escada“

(hamburg, 17. 11. 2007); quelle: unbekannt


[ glück ist die nähe der kloschüssel ]

November 23rd, 2007

„vielleicht kommst du ja donnerstag mal vorbei?“

liebe a.

deine anrufentgegennehmerin ist eine gardienne, die
sich ziemlich penetrant in den vordergrund deines le-
bens drängt. und weil mir derart aufdringliche perso-
nen ein gräuel sind, habe ich schweigend – grusslos! –
wieder aufgelegt

nein, ich konnte nicht vorbeikommen; in der heutigen
nacht werde ich mein lager in irgendeinem befreunde-
ten badezimmer aufschlagen um, in der unmittelbaren
nachbarschaft einer kloschüssel mit funktionierender
wasserspülung liegend, dem drängen meines von my-
riaden peinschaffender viren überrannten darms nach-
geben zu können, dem – den überraschenden körper-
erfahrungen der letzten stunden zufolge – nicht lange
widerstand geleistet werden kann

kurz: ich bin auch im bauch erkrankt

[ solo für zwei stimmen ]

November 21st, 2007

wen ich trotz aller lieben, trotz aller zärtlichen scharmüt-
zel suche? dich. doch du verweigerst dich, entziehst dich
mir im traum, aufs neue jede nacht; abschiede, getrennt-
sein, schweigen, schmerzvolle varianten des scheiterns

dies ist eine jener stimmen, die in meinem kopf zu sing-
en begonnen haben, berauschender chor, unhörbar für
fremde, lauter als alle wirklichkeit, schrill, schmerzend:

mein tinnitus, mein innerer wasserfall, mein taubender
schrei um antwort nach dir, nach mir. nach mir. nach mir


[ mood: naked ]

November 20th, 2007

novemberkältegrau. drei obdachlose lachen unter kah-
len bäumen, einer zeigt auf meine blanken füsse: ha-
ste die frisch beschlagen lassen? wir lachen gemein-
sam, ich eile weiter: ein peryton ist immer unterwegs

das café erstrahlt in neuer farbigkeit. gelbgrün. trotz-
dem fühl ich mich wohl, wärme meine hände am kaf-
fee, setze die brille ab und starre blöde vor mich hin

hol mich hier ab, sage ich, lass uns nochmal so tun
als wären wir uns nah, hol mich hier raus. ein schluck
kaffee drückt mir das brennen weg, im hals, ein letz-
tes schlückchen hinterher, dann ist die tasse leer. du

hörst mich nicht mehr, sag ich und spüre den vorwurf
darin wie einen stich. schorsch, rede mit mir, sagtest
du, irgendwann, und: bitte. damals, weisst du, konnte
ich dich nicht hören. tür auf, tür zu. novemberkältegrau


[ peryton versus das politische lied ]

November 19th, 2007

wurde ich gefragt, ob ich mich bewerben wolle für ein
„festival des politischen liedes“. aber parolen wie „join
the revolution“ oder „change the world“ sind in meinen
augen so grundpeinlich, dass ich ganz bestimmt nicht …

im gegenteil bringt mich das zur aussage, ich schriebe
keine politischen lieder. fertig. und keine dümmliche lie-
dermacherschlagerscheisse. „so einfach ist es manch-
mal, entscheidungen zu fällen – wenn sie nicht wirklich
welche sind … und wer sagte da letzthin, die musikbran-
che läge am boden? das wundert mich allerdings nicht“


[ schnaps? nein, anders. rum ]

November 18th, 2007

lass uns betrinken, sagt sie, holt den rum, der mit blauer
flamme brennt im glas. ein fürchterliches intro, denn bald
spiele ich klavier (ich kann das nicht), danach den einzi-
gen chanson, den ich auswendig singen kann und dann …?

es ging nicht lang. wir hingen auf zwei sofas und erzähl-
ten, irgendeiner kam und irgendeiner ging, irgendwann

ich mag dich, sagte ich und sie: ich mag dich auch. da
floh ich meinem planeten hinterher, bevor sich der in
unbekannte galaxiennebel stürzen konnte, ohne mich

bedauern, jetzt? ach nein. mein kopf brummt heute an-
dersrum als sonst; mir fehlen kleidungsstücke, was mich
beunruhigt, weil ich sicher war, dass … ich brauch kaffee