Archive for Oktober 18th, 2006

[ peryton verkauft sich nicht – oder: jenseits von wirtschaftlichkeit. ein offener brief ]

Mittwoch, Oktober 18th, 2006

an das jobcenter heidelberg
– markt und integration –
speyerer strasse 6
69115 heidelberg

– per email –

das kunstprojekt peryton – perspektiven einer kunst
jenseits von verwertungslogik und vermarktung. ein
offener brief

der abschluss meiner deutschlandweiten konzertreise
im oktober 2006 ist ein geeigneter zeitpunkt, die vom
derzeitigen geldgeber, dem ‚jobcenter heidelberg‘, ge-
wünschte wirtschaftlichkeitsprognose im rahmen einer
wertenden betrachtung der künstlerischen konzeption
des projektes ‚peryton‘ vorzunehmen und daran an-
schliessend eine weitsichtige prognose zu wagen

in einem land, dessen bildungssystem über jahrzehn-
te hinweg bemüht scheint, schreibunfähigkeit zur all-
gemeinen norm zu befördern, einem land, in der die des
lesens (noch) befähigten seit herbst 1989 mehrheitlich
den konsumentInnen der tageszeitung ‚bild‘ zugerech-
net werden müssen, kann bereits das überaus positive
echo der zahlenmässig kleinen bis familiär zu nennen-
den zuhörerInnenschaft als erfolg gewertet werden

der versuch, unter dem titel ‚chanson und lyrik‘ lied-
und textbeiträge im wechsel zu präsentieren, die alle-
samt an einem autonomen künstlerischen ideal aus-
gerichtet sind, nicht am kunsthandwerklichen massen-
schnitt eines mainstreams, hat gegriffen, hat die zu-
hörerInnenschaft ergriffen. angesichts der inhalts-
’schwere‘ der lyrischen form sowie der den meisten
ungewohnten musikalischen form war dies die bestä-
tigung der künstlerischen konzeption sowie ihrer um-
setzung auf der bühne und lässt die prognose zu, da-
mit auch zukünftig erfolgreich zu sein, was heisst: ge-
sucht, verstanden und positiv aufgenommen zu wer-
den

vom standpunkt einer gewinn-verlust-rechnung aus
betrachtet war die konzertreise ein desaster. mit der
absage des abschlusskonzerts aufgrund technischer
probleme auf seiten der veranstalterInnen konnten
die gesamteinnahmen gerade einmal die reisekosten
ausgleichen, wobei die vorauslagungen für werbung
und organisation nicht berücksichtigt sind. wäre der
begleitende musiker nicht mit einem minimalen obu-
lus zufrieden gewesen …

dennoch

dieses land ist derzeit beteiligt an kriegen unterschied-
lichster fronten. es ist in der lage, ohne scham und oh-
ne nennenswerte oppositionelle kritik soldaten loszu-
schicken, ohne frage nach dem unausbleiblichen ge-
sellschaftlichen wertewandel hin zu allgemeiner akzep-
tanz von gewalt und – selbstverständlich – ohne eine
frage nach der wirtschaftlichkeit destruktiver militär-
politik und der ihr eigenen marschmusikkultur. dieses
faktum ist den uniformköpfen bekannt und – sage ich –
um von den inneren problemen abzulenken, nicht jenen
nur bequem: in deutschland bleibt kein hochgeriss’ner
rechter arm ohne verheerende folgen

historisch wie menschlich gesehen gibt es akuten be-
darf an konstruktiver kritik, an einer kultur der kritik, al-
so einen dringenden bedarf an kritischer kunst jenseits
von vermarktungsinteressen und wirtschaftlichkeit, jen-
seits aller ansprüche alltagsgewöhnlicher happyness-
events und vor allem jenseits politischer gefälligkeit:


eine kunst, die nicht politisch ist, ist keine kunst
– sie ist blosse dekoration, ist kunsthandwerk

und daraus folgt:

peryton ist und bleibt politisch, bleibt bitter, bleibt
süss, bleibt allseitig quer und bleibt gerade, bleibt
unmodern lyrisch und lyrisch brandaktuell. peryton
wird seinen beitrag zur kritischen kultur weiterhin
leisten, selbst wenn die lack und leder tragende
bezahlkunst stets den finanziellen erfolg im schun-
keln des politisch opportunen abgreifen wird

peryton ist auf dem richtigen weg – und bedankt sich
bei seinem ihm so herzlich gewogenen publikum für
die vielen unvergesslichen momente, begegnungen
und erfahrungen an den verschiedenen spielorten
deutschlands


dann werde ich singen (on a fait le compte)

wenn die nachbarskinder mit den flammen
spielen unter euern dächern, so wie wir damals
zündelten unter luftschutzdächern, unter rohem
holz im wald, in ruinenkellern, aber ohne arg

wenn sie gebrandmarkt haben, also
was euch wichtig schien

wenn sie den müttern gesagt haben, dass ihre
milch bitter schmeckte, niemals besser als die
schläge ihrer abendväter, wenn sie die schulen
besuchen, um fenster einzuwerfen mit büchern
in sprachen, die zu verstehen niemand sie
lehren wollte, wenn sie ausgespien haben
ihren zorn und fortgegangen sind, endlich
ohne traurigkeit

dann

werde ich meine lieder dazu singen, meine
brennenden lieder von der liebe und davon
dass der warnungen genug gewesen sind

seht ihr? seht ihr?
on a fait le compte