mit dem flügelschlag der taube drang das geräusch des regens
in meinen traum, weckte mich mit den tränen des allhöchsten
himmels, traurig weiterträumend den alb vom orakel
sie war eine zerknitterte alte frau, damals schon, obwohl in der
sogenannten blüte ihrer jahre stehend, verlassen von allen gu-
ten geistern, wie man sagt, aber wohl geborgen lebend im kreise
einer gemeinschaft, nicht ganz so züchtig, wie es sittsam gewe-
sen wäre, aber es war eben eine wilde zeit, damals, die bis in die
hintersten winkel bayerns hineinwirkte. dazu lebte sie tief einge-
bettet in die traditionen dieses landes, in dem der aberglaube
ebenso fest verankert ist, wie der glaube an die oberste gottheit
in einer ewigen volksseele, die bis heute zur hymne an den kaiser
marschiert, mit dem starken rechten bein den takt tretend. eines
tages drehte sie durch, wenn man so sagen kann: sie hörte die
stimme ihres herrn. ja, so war es wirklich. ganz nah war er zu ihr
getreten, angerufen hatte er sie und dann hatte er sie genomm-
en, war er in sie gekommen wie einst in die jungfrau maria und
sie spürte seine säfte fliessen, durch ihre heilige scham, durch
ihre lippen fliessen, in sie hinein, oh mein gott, sagte sie, aber
nein, das durfte sie nicht, das wollte sie nicht, doch war es ihr
gott, der von ihr besitz genommen hatte und dann machte er sie
stumm, dann sprach er aus ihr heraus, unaufhaltsam, machte sie
zum sprudelnden quell heiliger worte und weil sie ein armes weib
gewesen, gottesfürchtig, schuldbeladen, glaubte sie an das, was
ihr da widerfahren war
ihre kommunarden, die in jener zeit allerdings nicht die revolution
der welt zum ziel, sondern im gegenteil die ausbeutung derselben
im sinn hatten, erkannten schnell die wunderlichen ergüsse ihrer
kumpanin als gewinnverheissende geschäftsgrundlage und be-
gannen die mine auszubeuten, die so unverhofft in ihren besitz
gekommen war. sie bauten ein imperium um ‚das orakel‘ – so
wurde sie bald genannt – und die menschen strömten heran, folg-
ten wie einst hänsel und gretel der durchgeknallten alten in den
wald, denn je dümmer das gemüt, desto mehr liebt es das okkulte
die jahre vergingen. die am leim des versprechens hängenge-
bliebenen zehrten sich aus in blinder hoffnung auf ein ewiges
leben, das doch immer in der ferne liegen sollte, das orakel-im-
perium wuchs und wuchs, doch die alte wurde zunehmend ge-
brechlich. ihre gesalbten reden, die sie in psychotischen schüben
der trance von sich liess, wurden auf tonbänder aufgenommen
und füllten lange regale, sie wurden ausgestreut in die welt via
telefon, via kurzwellenradio oder durch das inzwischen modern
gewordene netz der computer, aber das ende nahte drohend. im-
mer öfter mussten die zittrigen lippen gottes in eine klinik gebracht
werden, wo sie stieren blicks den studenten vorgeführt wurde: und
hier sehen sie das bekannte orakel oder besser das, was von ihm
übrig blieb …
oh nein, das war nicht schön. das imperium wankte. die suche
nach einer nachfolgerin aus dem engsten kreis der sie umge-
benden scheiterte; das charisma des originals, ihre inbrunst im
wahn, ihre schönheit unterm würgegriff des gottes erreichte keine
bis sie endgültig zusammenbrach, eines tages, und ich an ihrem
bett stand, eingeschlichen, in der heimlichen dunkelheit einer ver-
borgenen krankenstation, als ich ihre hand hielt, verbotenerweise
die vertrocknete hand einer ausgezehrten, ausgemolkenen, einer
verstummten, verblödeten, ihren welten gänzlich entrückten, ein-
gesunken in weisse laken, als ich ihr sagte, dass sie nun loslas-
sen und gehen könne ohne schuld, da machte sie einen tonlosen
seufzer, zog ihre hand aus der meinen und erhob sich leicht, fe-
derleicht, ja, sie flatterte davon als eine dirndltragende taube. ein
wunder, sagten die leute später
was für ein scheiss, sagte ich und wachte auf. vom fensterbrett
stürzte sich eine taube gurrend in die tiefe, während der regen
mit deprimierender gleichförmigkeit herabströmte
ja
und nun wischt eure tränen fort. das war ein hässlicher traum. ein
traum, hört ihr?
soviel brutalität, besessenheit, berechnung wie auch dummheit
kann diese erde nicht bevölkern, dass ähnliches sich in wirklich-
keit ereignen könnte, nicht heute, nicht in den phantasielosesten
ghettozeiten deutscher fussballkultur, nicht im götterbrünstigen
vatikan, nicht einmal im blauweissen lodenglück bayerns. es gibt
keine ähnlichkeit mit lebenden oder gestorbenen menschen in
meinem traum. nein, keine ähnlichkeiten. das letzte orakel, von
dem die legenden erzählen, erstickte in delphi, lang her ist’s und
ebenso sicher gelogen, am giftigen rauch aufgebrannter sklaven-
häute. oder an einem schlechten, viel zu dicken joint. und das ist
gut so