Archive for September, 2005

[ deux pigeons à la place de l’hotel de ville ]

Samstag, September 3rd, 2005


 

– 1 –
zwei tauben quirlen das abendlicht zu erträglicher
kühle. am nebentisch sinkt das gespräch zum flüs-
tern. ein trauriger bauch schiebt vorbei, lentement
schwerer blick auf mich, abstreifend zu den drei
frauen nebenan, alter wolf ohne hunger, ohne zahn

eckhaus gegenüber erster stock: über ein achselho-
hes fenstergitter hängen zwei junge frauen, klettern
umeinander wie junge katzen, lärmen um aufmerk-
samkeit. familien mit, paare ohne kinder, hin, her

am lautesten sind die schwalben, zirpend auf ihrer
jagd um die dächer. autos bedächtig auf dem weg in
den feierabend. aus der bar jazztrompeten: ils m´ont
retenu. die hutkünstlerin, deren atelier ich nicht
mehr finden konnte, wird nicht vorbeikommen und
nicht du. sterben würde ich. ausklingen. der letzte
ton eines konzertes: es ist getan

eine kirchturmuhr schlägt durch meine gedanken
22 uhr 02 lügen die zeiger am hotel de ville

aubenas
 

– 2 –
doch am morgen zeigt der fluss sich mir gewandelt
der abends mich im dämmern, auf der suche nach
seinen wassern, über steinbänke tasten liess, der
eine nixe ans ufer warf, sich dort zu räkeln (nein, sie
hatte keinen schuppenleib) – er schmückt mit neuen
attributen sich und riecht

nach kadavern. schlammgirlanden hangeln sich ent-
lang der trocknen brüche, braungrüne wolle überdeckt
das liegende, scheint seitwärts aufzukriechen, seiten-
tümpel sind kloaken

dass hier noch frösche leben und gar nixen …
 

foto: ardèche. pont d’aubenas, 03. september 2005


[ echo ]

Freitag, September 2nd, 2005

lass geschwister sein
unsere kastanienherzen
die sich gleichen wie eine
frucht der andern, die
sich nah sind, nah waren
bis zum sommer

zum sommer
rauschen meine blätter
ein echo in den wind, in den
herbst, mein rufen zwischen
den zweigen, zwischen den
sprachen: bruder

schwester


[ à la rivière ]

Donnerstag, September 1st, 2005

beredte steine antworten unter nackten sohlen im
rhythmus meiner monologe. neben mir läufst du
biegst nicht die weidenzweige, nur der wind. daran
erkenne ich, dass du nicht hier bist
.
auch daran
 

er stoppt sein fahrrad, winkt über das hohe eisen-
geländer der brücke zu mir, auf den heissen stei-
nen. nur mit zugekniffenen augen kann ich seine
silouette erkennen, gegen die abendsonne, zwei-
fach blendend, über den fluss gespiegelt, ein
schwarzer arm aufgereckt, winkend, gegen den
kastaniengrünen berg. ein bild für mein buch der
erinnerungen, près de ma coeur
 

und ich werde zurückfahren ohne klarheit;
doch, dies: ich kann nicht vergessen
 

 

eine polizeikontrolle auf dem weg in die stadt. nun weiss
ich, dass fahren ‚au pieds nus‘ in frankreich strengstens
verboten, das fahren ohne eine spezielle versicherungs-
karte ebenso unmöglich ist, wie das anbringen eines auf-
klebers ’non aux militaires‘ der, wie ich lernte, einen gen-
darmen, der sich als soldat versteht, zutiefst beleidigt. und
der kofferanbau an einer roten ‚ente‘ führt eigentlich auf
direktem weg zur guillotine; eigentlich … aufgrund eines
unerwarteten momentes südfranzösischen überlebens-
glücks durfte ich, dennoch – vermutlich, weil ich den uni-
formierten total weltfremd erschien und sich zudem das
auto als nicht geklaut erwies – nach artigem aufsagen des
gelernten weiterfahren, ohne federn gelassen zu haben