– oder – [ euphemische betrachtung autobiographischer gedächtnisdaten ]
– oder – [ liebst du mich? ]
es gibt streitgespräche, die nicht ins vergessen fallen. so jenes, das am vorwurf meiner damals liebsten freundin entbrannte – sie sei hier zur wahrung ihrer anonymität und ihres ehrenden angedenkens `lina´ genannt – ich würde, schärfer noch: ich könne niemals, selbst auf die einfachste fragen hin, mit einem schlichten `ja´ oder einem ebensolchen `nein´ antworten
anstelle meiner spontanen erwiderung folgte ein anhaltendes, ein hörbar nachdenkliches atemholen meinerseits, ein zögerlich sich ausdehnendes summen – dergestalt etwa: „hmmmmm“ – endlich ein umschweifig einleitendes „also ich sehe das so: …“, was als präludierender auftakt zu einem längeren vortrag geplant war. allerdings löste diese artifiziell ausgestaltete einleitung bei jener bereits erwähnten freundin zunächst einen spontan aus ihr hervorbrechenden ausdruck schier unbändiger wut aus, die sich in minutenlangen lautmalungen unterschiedlichster klangfarbe und intensität, spastisch anmutender gestik und dem ausstossen diffuser beschimpfungen gegen meine person äusserte – so entsinne ich mich, noch heute davon überrascht
manchmal – zugegeben: selten – vermag mein mit voraneilendem lebensalter erschreckend nachlassendes gedächtnis erstaunlich detailreiche wiedergaben lang zurückliegender lebensmosaiken in form ganz privater kopffilme zu vergegenwärtigen. vorausgesetzt, ich schätze sie des erinnerns wert. (für leselaien autobiographischer werke: dies war erst die einleitung. es folgt die üblicherweise euphemisch veränderte hervorbringung einiger für wesentlich befundener gedächtnisdaten.)
nach meinem geschmack kann keine frage, so klein und unscheinbar sie auch daher zu kommen vermag, mit einem schlichten, einem quasi magersüchtig-schlanken `ja´oder seinem antagonistischen partner zufriedenstellend beantwortet sein. zumal in einer zunehmend kompliziert, verworren, unübersichtlich gar und demgemäss in der bewertung ihrer kausalbezüge zunehmend fragwürdig werdenden welt – immerhin behaupten wir dies vielfach und angestrengt vor– und gegeneinander, bis wir es endlich selber glauben dürfen, um unsere im kritischen zivilisationsvergleich historisch anwachsende inkompetenz in faktischen wissensfragen wie in sachen individueller selbstverwaltung zu kaschieren – zumal also, um den argumentativen faden erneut aufzuheben, die komplexität von ursprung und wirkung, von logischem schluss und persönlicher konsequenz im falle einer durchaus möglichen fehlentscheidung (wie auch des gegenteils) verheerende auswirkungen mit sich bringen kann. mit sich bringen könnte
als simples anwendungsbeispiel dient uns zuerst die folgende frage: wenn diese ampel dort ein grünes lichtsignal zeigte, könnten wir beide, im augenblick noch erwartungsvoll stehend, dann gemeinsam losgehen?
nun, wir könnten dies mit einem nackten `ja´ beantworten, falls wir einen als naiv zu denunzierenden lösungsweg für diese komplexe fragestellung beschreiten wollten. dies würde allerdings in – ich unterstelle: wissender – negation der tatsache erfolgen, dass für das fällen einer derart gewichtigen antwortentscheidung vielerlei gesichts– und standpunkte zu beachten sind. zu beachten wären
für unser antwortverhalten spielt das räumliche gebahren aller strassenverkehrsteilnehmerInnen am bezeichneten ort sowie unsere mögliche interaktion mit ihnen – ich präzisiere: beziehungsweise mit teilen von ihnen – eine nicht zu unterschätzende rolle. (übrigens stelle ich gleichzeitig als these in den virtuellen raum der theorie, dass die meisten unfallopfer, statistisch gesehen, nicht an den roten, sondern – meinen ausführungen zufolge bald erwartungsgemäss – im verlauf der fussgängerInnenampel-grünphasen zu beklagen sind. wobei an dieser stelle die rückfrage einzuschieben ist, welche klage korrekterweise geführt werden müsse – und wann. den eintritt eines mit statistischer sicherheit vorherzusagenden ereignisses zu beklagen, ist durchaus ein erstaunen hervorrufendes verhalten. vergleichbar, etwa, dem beklagen altersbedingter hautfalten.)
desweiteren sind die lichtverhältnisse explizit zu betrachten – nehmen wir diese grüne ampel tatsächlich als zeichengebendes lichtsignal wahr oder unterliegen wir just im moment der entscheidungsfindung einer sinnestäuschung, verwirrt durch räumlich benachbarte, um unsere wahrnehmung konkurrierende lichtreize? – sowie die fähigkeit zur nervenphysiologischen aufnahme, weiterleitung und verarbeitung entscheidungsrelevanter optischer informationen in die aufsummierung der rahmenfaktoren mit einzubeziehen. etwa demgemäss: weiss ich um meine eventuell latente rot-grün-blindheit? sind meine benachbarten handlungspartnerInnen uneingeschränkt optisch entscheidungsfähig? könnte ihr – für das gedankenspiel als zusätzliche rahmenbedingung unterstellt – von dem meinen abweichendes entscheidungsverhalten mein eigenes positiv oder negativ befördern? wie aber ihr dem meinen gleichendes?
oder lenken wir den blick auf die vertiefende frage: handelt es sich wirklich um eine fussgängerInnenampel und wird diese erkenntnis von allen im näheren umfeld angesammelten menschlichen individuen im konsens gehalten – denn gegebenenfalls könnte eine abweichung von dieser übereinkunft unser handeln eklatant beeinflussen bis zur körperlichen versehrtheit, respektive bis zum tode?
zuletzt – wobei ich sicher bin, noch lange nicht den kleinsten teil aller gewichtungsrelevanten fragestellungen beleuchtet zu haben – zwei fragen mit tagesaktuellem politikbezug, zwei fragen auch zur sinnhaftigkeit meines handelns: ist es angesichts der oben angerissenen fragestellung zur verkehrssicherheit an ampelanlagen angebracht, mich an derart exponierter stelle einer statistisch gesicherten todesgefahr auszusetzen – sprich: wäre nicht die überquerung der strasse an nahezu jeder anderen stelle meinem weiteren lebensgenuss dienlicher, rein statistisch gesehen? und – abschliessende frage – wäre eine abweichung aus gründen demonstrativ ausgestellten und fürderhin basisdemokratisch motivierten oppositionsverhaltens nicht angemessener: anarchie im alltag: rot – gehen, grün – stehen? (doch wer verstünde dies?)
somit ist bereits an diesem banalen exempel, diesem alltäglichen wegmal erkennbar, wie schwierig sich der erkenntnispfad zur eingeschränkten bejahung oder auch zur eingeschränkten verneinung gestalten kann, dass demzufolge eine spontane, bedingungslose beantwortung mit `ja´ oder `nein´ unmöglich sein muss
eine beidseitige schweige- und atempause, angemessen kurz. nein, dieser disput war noch nicht entschieden. aber war es, liebste freundin von damals, unvermeidbar und sinnvoll zu erfragen, ob zum gemeinsam lustwandelnden pas de deux durch die einkaufspassagen dieser stadt ein schirm mitzunehmen sei, angesichts der radiomeldung, in der `schauerartige niederschläge´ vorhergesagt worden waren?
ich führe niemals einen schirm mit – du etwa? – nicht einmal auf demonstrationen, die den kampfmässigen einsatz von wasserwerfern erwarten lassen. ausserdem besteht, das bitte ich zu berücksichtigen, die chance einer gebietsbedingten abweichung in der ausgestaltung jedweder witterungsereignisse. zumal es sich bei der prognostizierten um eine niederschlagsform handelt, die, bereits angesichts ihres namens für niemanden unverborgen bleibend, von einer gewissen variablität in ihrer zeitlichen erstreckung kündet. vorausgesetzt also, wir befänden uns zum zeitpunkt des ereigniseintritts in einem bürgerlichen kaffeehaus sitzend, streithaft verstrickt im vergnügen kontroverser philosophischer betrachtungen über die – beispielsweise – verheerend anzuschauenden auswüchse des allseitig zunehmenden destruktivkapitalismus … schliesslich und darüberhinaus mag durchaus die möglichkeit bestehen, dass sich das vorhergesagte meterologische geschehen durch die ausbildung eines sogenannten zwischenhochs zwischen den frontendurchgängen zweier zyklonen … du verstehst?
überwältigt von der mir eigenen verkörperung männlicher prinzipientreue, gepaart mit einem nahezu unerschütterlichen wissenschaftlichen fundament, zerbarst die wiedergewonnen geglaubte redselige laune meiner streitgefährtin erneut und fand – ich verneige mein haupt, erinnernd, in demut vor dir, lina! – einen thematisch durchaus passenden gefühlsausdruck in schauerartigen niederschlägen aus dem bereich ihrer oberen gesichtshälfte, begleitet von heftigem nasenschneuzen
um die in der folge leicht angeschlagene gemütsstimmung des jungen wochenendes zu retten, versuchte ich mich in erklärungen, die auf gemeinschaftlich–emotionalem niveau fussend, gefällige aufnahme und endlich auch zustimmung finden sollten: schau, lina, jede beliebige frage ist doch stets von einem speziellen, individuellen, ja einzigartigen standpunkt aus gestellt; damit verbieten sich absolute begriffe der zustimmung oder ablehnung. ich würde weder der fragenden person noch ihrer kulturellen, sozialen, soziokulturellen, geschlechtlichen, historischen, ethnischen gesellschaftlichen oder sonst–wie–einbindung gerecht. ganz abgesehen davon, dass die exogenen standortfaktoren, also jene von ausserhalb, von der umgebenden umwelt aus hineinwirkenden einflüsse, dabei gänzlich unberücksichtigt blieben. es wäre – ich rang nach den schliessenden worten – persönlich, wissenschaftlich und politisch unkorrekt
sie schwieg
ich, eindringlich: schau, selbst die so einfach scheinende frage „liebst du mich“ ist doch eine geradezu gefährliche, angesichts der tatsache, dass jeder mensch eine ganz eigene, höchstpersönliche auffassung von liebe pflegt
sie schwieg. sie schnüffelte. sie schien ein klein wenig besänftigt
ich, beschwörend: und dann gar die frage „liebst du mich noch„. an dieser unwesentlich scheinenden beifügung zerbrachen schon bis dato bestfunktionierende beziehungen. `noch´. haha. `noch´. die kapitalistische sozialisierung der westlichen welt ist in ihrer gesamtheit eingeschlossen in jenem `noch´. die argwöhnische kontrolle des persönlichen besitzstandes, die abfrage des emotionalen status quo, der gesellschaftliche börsenwert in der einen schale der waage, in der anderen die latente, die unterschwellige drohung zurück zu fordern, was verauslagt war: gefühlsleistung. reinster kapitalismus!
ich schrie inzwischen fast, mitgerissen von meiner eigenen, glänzenden rhethorik: kein platz mehr für gefühl, für liebe, ja, die unbedingte liebe – kannst du mir endlich beistimmen, dass generell und gerade hier kein einfaches `ja´ oder `nein´ statthaft sein kann?
langes schweigen. leises schnüffeln. dann – mit diesem unheilvollen blick von unten herauf, schräg zwischen tränenfeuchten wimpern hervor, verschleiert augenwinkelnd, jener blick also, der von hollywood-assimilierten als `romantisch´ missgedeutet wird: und wie ist es mit uns beiden? liebst du mich … noch?
bis heute weiss ich auf diese frage keine antwort zu geben, ausser jener gänzlich aus der form geratenen: keine antwort möglich
unsere beziehung hielt noch drei mühevolle, drei fleissige monate, vielleicht auch ein paar tage mehr