Archive for 2005

[ maulschön ]

Freitag, Januar 28th, 2005

– lili marleen –
 

ein tag, der mir davonrennt, um die ecken eilt, der
alles frosterstarrt, zudem, was nicht beweglich bleibt
– so war’s zu einem teil die suche nach dem wär-
menden asyl, dass ich in dieses tattoo & piercing-studio
schlüpfte; auch, weil mir vor einem halben jahr ein stein
versprochen worden war: er lag bereit, der rote, war
mit dem neuen reif montiert, an meine lippe, in einem
augenblick und ich entkam, fesch geschmückt, dem
kälteschaden zwar nur knapp dennoch ich entkam, be-
glückt: eine spur maulschöner
 

foto: magdeburg, 01. januar 2005


[ humankapital ]

Mittwoch, Januar 26th, 2005

– kapital animal –
 

das offizielle ‚unwort des jahres‘ wurde vor we-
nigen tagen in frankfurt am main ausgelobt:
‚humankapital‘. respekt! einigen sprachweisen
ist aufgegangen, was kapitalismus so macht, mit
und aus den menschen und wie sich dies in
wortwahl zeigen kann. nicht aufgefallen, aller-
dings, scheint denen, wie jener mensch sich
selbst gebart mit nicht humanen, eingefügten
teilen seines alltagslebens, die er überall all-
täglich hegt, pflegt, gattert und vermehrt, um
sie zu nutzen, um sie auszustellen, anzuschau-
en, anzufütten, abzuledern, abzufedern, abzu-
fischen, auszulaugen, auszubilden, auszute-
sten, aufzumachen, aufzubrauchen, aufzutei-
len in portionen, kilos, grämmchen, sie zu ko-
chen um zu essen oder seifen, pulver, ingre-
dienzen, kunstgebilde herzustellen, kurz – um
auszuschöpfen, was darinnen liegt, bis über alle
grenzen von leben und ‚moral‘ hinweg: das
animale kapital

all dies scheint derart selbstverständlich und
normal, dass es der näheren, der wertenden
beachtung nicht bedarf. der humanismus pflegt
sprache und moral und kulturelles potential
von höchstem, eignen rang; groteske blüten
werden würdevoll verliehen, wenn mensch
dem menschen ehrend – oder rügend – auf
die schulter klopft
 

foto: kaptial animal
gottesgabe, 08. januar 2005


[ neues vom hexer ]

Mittwoch, Januar 26th, 2005

– oder – [ rave the cave! ] – oder –

[ smash´em now! ]

eben hab ich die folgende email an den hochtalen-
tierten anwalt dr. christian sailer geschickt, den
justitiar der sekte ‚universelles leben‘, der
wohl seit einiger zeit nicht mehr ruhig schlafen
kann: gabi im gegenwind

from: info@peryton.de
to: info@sailer-hetzel.com
subject: gegenwind
date: wed, 26 jan 2005 00:12:14 +0100

na, advokätchen
es gibt wohl probleme?

(ts ts ts … mir kam zu ohren, dass am vergangenen abend ul-leute in heidelberg eine freiheitsberaubung vollzogen haben sollen? aua. sie haben ihre schäfchen wohl nicht recht ‚im griff‘? wenn das die gabi erfährt, auf ihre alten tage …)

georg hemprich

‚universelles leben‘ … wie – noch nichts davon
gehört?? dann wird´s aber allerhöchste zeit, die haus-
aufgaben zu machen

hier einige leseproben über das jahrzehntelange, na-
hezu ungehemmte ‚wirken‘ einer totalitären sekte …
und den endlich wachsenden widerstand dagegen:

=> kritische ul-dokumentation – nr. 1

=> kritische ul-dokumentation – nr. 2

=> kritische ul-dokumentation – nr. 3

=> ul-reportage des magazins voice (31/2002)

=> unterstützungsseite: pro voice, contra ul

=> indymedia – 1 (zur aktion in mannheim, 20.01.05)

=> indymedia – 2 (artikel vom 24.01.05)

=> indymedia – 3 (artikel vom 06.01.05)


[ gute nacht, john-boy! ]

Dienstag, Januar 25th, 2005


 


ich hab sie heute besucht

… ja?


ja … warum ist die welt so kompliziert?

weil sie rund ist


und warum halten wir immer an der ver-
gangenheit fest?

weil wir angst haben, herunterzufallen. des-
halb halten wir so fest an dem, was uns trägt
… das wort ‚runter‘ kommt ja auch von ‚rund‘


ach, wirklich?

nein. ich glaube nicht. aber es klang doch
schön, oder?
 


(was das foto mit der geschichte zu tun hat?
natürlich nichts. natürlich eine ganze menge)

 

foto: kurz vorm platzen. april 1994


[ später winter ]

Montag, Januar 24th, 2005

über nacht hat er sich hingeworfen, weiss und kalt
und quer in alle wege, als hätte er gewusst, wie ich
zu quälen bin, am härtesten: mit eigner ungeduld

von einem sommer habe ich geträumt, dennoch
– vielleicht deshalb -, der in der fernen zukunft schon
vergangen lag, der nur im träumen so, mit der
besetzung und auf dieser bühne zu erleben
ist: im schlaf

wir haben heu geerntet dort, wo niemals heu zu
ernten war und es war spät bereits, ein wetter
drohte, doch wollten alle hände fort zu fernen
zielen. so blieb ich, bot mich an, mein reisen zu
verschieben um den einen tag, damit das
notwendige getan, das gras gerettet werden
konnte vor dem regen. zum ersten mal seit
jahren sprachen wir, die mutter und der vater
und ich selbst ganz ohne zorn, offen, bar des
misstrauns, bar der schuldverweise; nein, kein
hader zwischen uns

wo du gewesen bist, ich kann es nicht mehr
sagen – du warst; nicht irgendwo zu sehen und
zu nennen, nein, du bist gewesen, du warst der
traum, du warst das heu, zum trocknen auf-
geworfen über reutern aus holz, die furcht vorm
sommersturm warst du und auch mein bleiben

eine frage bricht die nächste auf, die nächste noch
und wieder und erneut, so war es all die jahre: wo
bist du gewesen und weshalb?

dass dieser späte winter hingeweint, in meinem
traum entstanden und herausgeschneit, ist nun
gewiss: ich kenne dich. ich weiss den klang der
tränen in der nacht, als ob es gestern war – so leise
fällt der schnee, er spricht. nein, glaube mir: ich hab
gelernt, die spur zu finden, um in ihr zu lesen


[ ansicht, verschoben ]

Sonntag, Januar 23rd, 2005

– augenblicklich: julia –
 

foto: 06. januar 2005


[ hase ]

Samstag, Januar 22nd, 2005

schau mich an, hase, werde ich gesagt haben, schau mich an, wenn ich mit dir rede. und er wird geblinzelt haben, zögerlich, denn alte hasenaugen, selbst solche aus porzellan, neigen dazu empfindlich gegen das licht der morgensonne zu sein, auch wenn diese matt nur durch die trüben oberlichter eines zirkuswagens fällt: schmaler, heller strich, von leuchtpunkten durchtanzt, milchstrassen des morgens

ich werde die linke der morschen flügeltüren aufgestossen haben, begrüsst vom katertier, dem grauen mit der verstümmelten pfote, der sich die nacht auswärts streunend um seine heldenohren schlug, begrüsst von der betagten eiche, der seit jahrzehnten sterbenden, gewiss, begrüsst vom mühlenteich, der keine wellen an mein ufer warf, weil er zu klein dafür gewesen, solchermassen begrüsst werde ich die drei stiegen übersprungen haben, hinab, und schon am holzlosen türstock, dem eingang zum schuppen angelangt sein

es wird ein schneereicher winter gewesen sein, damals. weil die winter vor jahren noch die angewohnheit hatten, kälte und schnee zu tragen als typische gewandung ihrer zeit, dann und wann gewürzt mit einem stürmchen, das den weissen griesel durch die ritzen trieb, so wird auch an diesem morgen schnee gelegen haben, ja, sicher, ein hauch, zumindest, ein schneehauch wird das land bedeckt haben, um diese stille zu machen, diese stille …

wenige scheite holz werde ich zerkleinert haben, mit der leichten axt, unter der tief durchhängenden decke, dabei bemüht gewesen sein, nicht gegen die tragbalken zu stossen, eine handvoll spane nur, vielleicht zwei, genug für das feuer der morgenstunden: während das erste knistern die rückkehr der wärme verspricht, wird die hexe bald schon begonnen haben, höllenhitze auszustossen, die dennoch nur die kälte in ihrer nächsten nähe bricht. und während der kessel längst über das feuerauge gezogen ist, in die kuhle der herausgenommenen ofenringe gesetzt, werde ich bereits am regenwasserbottich gestanden haben, mit der axt das eis aufgeschlagen, mich zu waschen, alldieweil von der eiche herab ein kalter puder auf meine haut gerieselt sein wird, gleich zärtlichem streich

ich werde deine post erwartet haben, eine kerze angezündet, den umschlag belacht, bestaunt, geküsst, auch diesen brief erneut gelesen, erst alles auf einmal, dann satz um satz, wort um wort, den kaffee getrunken, geweint, gelacht, wie so oft, die immer wieder jungen fragen beantwortet gefunden haben und an mich gestellte, neue erfunden, geboren, für dich, an dich zurückzusenden, ja. die fragen aber, die viel später kamen, so viel später … sie ist geflogen, diese zeit, geflohen, fortgezogen irgendwann, mit den nebelkrähen, im frühjahr gen nordosten fort; nein, sicher bin ich nicht und nicht, wann das geschehen war, geschehen konnte

dann, allerdings, würde ich mich gestützt haben in meine hände, mein gesicht zu schwer, um sich selbst zu tragen und meinen namen würde ich geändert haben, damit du mich finden können würdest oder suchen; dann, allerdings

du, lass die glocken klingen, da du gehen musst

schau mich an, hase, werde ich gesagt haben, schau mich an, wenn ich mit dir rede. lange wird das her gewesen sein, ich würde die augen geöffnet haben müssen, um zu erwachen, anzuschauen, was gewesen ist, zu beginnen mit dem anfang. aber bis es soweit kam, dauerte es die zeit, die dafür notwendig war, voll sonne und schmerz und abschied und wiederfinden

foto: an der salzauer mühle (1996)
copyrights: cosima fuchs © 2005

[ drücker, schwindler, schornsteinfeger ]

Freitag, Januar 21st, 2005

– oder – [ menschen taumeln. mukka pazza. befreite adler ]

– oder – [ pisa II und deutschlands dumme kinder ]

ich erwache. es klingelt zum zweiten mal. ich schiesse delphinengleich in die höhe, taumle zur wohnungstür: zu spät: die zimmertür nebenan hat sich bereits geöffnet, der drücker ist gedrückt, das schloss entriegelt, das „kommen sie hoch, hinterhaus, zweiter stock, links“ ist längst gesprochen. was bleibt ist ein taumeln, ein kreiseln, ein gegeneinandertreiben der kopfschalen auf dem hirnenrund

warum sind schornsteinfegermeister stets mittleren alters, stets blond, stets von wohl genährter erscheinung? es muss einträglich laufen, das geschäft der letzten ihres umtriebigen gewerbes. warum werden schornsteinfegermeister stets von glutohrigen assistenten begleitet, die stets blöde nebenbei stehen, glotzend bestaunen alles, was in ihr gesichtsfeld fällt? an diesem morgen: drei unausgeschlafene zeitgenossen (plus grossem ‚i‘), mehr oder weniger oder eher noch mehr weniger, also spärlicher bekleidet, unterschiedlichen geschlechts, wie schon gesagt, unterschiedlichen gesundheitszustands in einer wohnung, die für den nachbarshund alleine schon zu kleine (letzteres nur um des wortreims willen). dennoch; wirklich geschehen war: drei verschlafene, die ihre verschlafenheit mit einem zettel angekündigt hatten („nicht vor neun uhr dreissig!!“) – was gab es da also zu glotzen? – und zwei schwarzbekittelte versammelt in einer küche, die allein schon für den nachbarshund … der assistent glotzt. hat der noch nie eine zahnbürste gesehen? in einem mund? oder solche haare? an dieser stelle? junge, lass dir das gesagt sein: ich weiss, dass ich schön bin!

sie sind bereits nach drei minuten wieder aus der hütte – und dafür waren wir alle aufgestanden; das hatte dieses aufwands wahrlich nicht bedurft. „der abend ist klüger als der morgen“. eben. falls der nochmal was von uns will, der schwarze feger, wird er dreimal klingeln müssen …

was blieb: der schwindel. beharrlich. selbst im liegen ein taumelndes kreisen, ein wendeln, ein strudeln. und ‚kopf an‘ war trumpf, kein weiterschlafen möglich; wie auch: zahnbürste im maul ist mein startsignal für den täglichen … ‚kampf‘, wollte ich schreiben. ‚lampf‘ kam dabei heraus. beim korrekturversuch entstand ein ‚ampf‘ und damit bin ich endlich beim thema, das mich so sehr beschäftigte, dass ich mich gegen den schwindel, gegen die sehnsüchtige bettlust an den schreibtisch zwang: was mit den worten so passiert, und – wie oder – mit uns passiert, wenn wir das eine oder andere verlegen, verlieren, vergessen, verschieben, versäumen … genau dies: es entsteht neues, das nah beim nahen liegen kann, oder – wie der nie zitierte apfel aus südafrika – eben doch sehr weit vom stamm zu liegen kommt

der schwindel, zurück zum thema, endlich: der kreisende. der kreiselnde. der schwindelnd schwindende – und: zack! daneben. wobei es doch so gleich klingt, klingte. klänge. aber so nah liegt die lüge eben dem verfall: der schwindel dem schwindeln wie dem schwund

womit wir bei ‚pisa zwei‘ angelangt wären, dem wiedergekehrten postulat für deutschlands blöde kinder: nein, sie sind nicht schuld, die kleinen, die dummchen. ihr müsst – immer noch – die alten prügeln; und genau: so wird es euch nicht gelingen. ob es gewünscht sei, ist die ganz andre frage, die ich gerne – wiederholt – berede: sicher nicht. denn gefährlich sind sie, die mit worten klingelnd spielen können, wie mit den perlen, die ihr den säuen vorgeblich zum speisen reicht. lüsterne zungen spielen frech mit worten: sprachlust, libido gelallt (da worte stören, wo die zunge spielt) – es liegt beinander, eng; was uns verbindet, ist was mich so freut und euch so schmerzt, ihr armen kinder dummer

was schon die dritte brücke war zur kuh, die blökt, mit schmerzendem gehirne: mukka pazza°, das verrückte hornvieh, das ich erhebe, hiermit vorgeschlagen als neues deutsches wappentier: weg mit dem adler, her mit dem huftier, rauf die kuh aufs banner

ein gar malerisches bild: allgäuer höhenvieh mit blöde verdrehtem auge (zunge muss raushängen und triefen). da würde sich so manche, mancher wiederfinden. und – ach! – erinnere ich mich des jungen schornsteinfegerburschen von heut morgen, mit dem wunderlichen blick: nichtverstehen auf zu weitem felde

womit wir ein schönes ende gefunden hätten: wir liegen beieinand vereint, im abschlussbild, arm in armen auf der heimatscholle, die nicht nach alten fischen riecht, nein, stinkt nach kommunalem schlamm vom klärwerk nebenan, die mukka muht und pazzt und stirbt, drei schornsteinfeger ziehn vorbei am rand und winken treulich, am himmel kreist ein adler schwarz, gezaust, aber befreit, er schwingt sich hoch und höher im aufwind über kraftwerkstürmen – biblis, scheint´s mir, ist nicht am dichtesten? – ich trällere ein liedelein, ein altes: „tsen brider sajnen mir gewesn hob’n mir gehandelt mit lajn, ejner is von uns gestorb’n, is geblib’n najn“, auf jiddisch, ja, bis zur letzten strophe. „ejn bruder bin ich mir gewesen, hob ich mir gehandelt mit licht, schterb’n tu ich jeden tog, weil tsu esn hob ich nit.“

damit hätten wir das mit der faschistenhymne auch geklärt, ein für alle mal. oder?

° mucca pazza (italienisch) – verrückte kuh


[ mögliche antworten: keine ]

Donnerstag, Januar 20th, 2005

– oder – [ euphemische betrachtung autobiographischer gedächtnisdaten ]

– oder – [ liebst du mich? ]

es gibt streitgespräche, die nicht ins vergessen fallen. so jenes, das am vorwurf meiner damals liebsten freundin entbrannte – sie sei hier zur wahrung ihrer anonymität und ihres ehrenden angedenkens `lina´ genannt – ich würde, schärfer noch: ich könne niemals, selbst auf die einfachste fragen hin, mit einem schlichten `ja´ oder einem ebensolchen `nein´ antworten

anstelle meiner spontanen erwiderung folgte ein anhaltendes, ein hörbar nachdenkliches atemholen meinerseits, ein zögerlich sich ausdehnendes summen – dergestalt etwa: „hmmmmm“ – endlich ein umschweifig einleitendes „also ich sehe das so: …“, was als präludierender auftakt zu einem längeren vortrag geplant war. allerdings löste diese artifiziell ausgestaltete einleitung bei jener bereits erwähnten freundin zunächst einen spontan aus ihr hervorbrechenden ausdruck schier unbändiger wut aus, die sich in minutenlangen lautmalungen unterschiedlichster klangfarbe und intensität, spastisch anmutender gestik und dem ausstossen diffuser beschimpfungen gegen meine person äusserte – so entsinne ich mich, noch heute davon überrascht

manchmal – zugegeben: selten – vermag mein mit voraneilendem lebensalter erschreckend nachlassendes gedächtnis erstaunlich detailreiche wiedergaben lang zurückliegender lebensmosaiken in form ganz privater kopffilme zu vergegenwärtigen. vorausgesetzt, ich schätze sie des erinnerns wert. (für leselaien autobiographischer werke: dies war erst die einleitung. es folgt die üblicherweise euphemisch veränderte hervorbringung einiger für wesentlich befundener gedächtnisdaten.)

nach meinem geschmack kann keine frage, so klein und unscheinbar sie auch daher zu kommen vermag, mit einem schlichten, einem quasi magersüchtig-schlanken `ja´oder seinem antagonistischen partner zufriedenstellend beantwortet sein. zumal in einer zunehmend kompliziert, verworren, unübersichtlich gar und demgemäss in der bewertung ihrer kausalbezüge zunehmend fragwürdig werdenden welt – immerhin behaupten wir dies vielfach und angestrengt vor– und gegeneinander, bis wir es endlich selber glauben dürfen, um unsere im kritischen zivilisationsvergleich historisch anwachsende inkompetenz in faktischen wissensfragen wie in sachen individueller selbstverwaltung zu kaschieren – zumal also, um den argumentativen faden erneut aufzuheben, die komplexität von ursprung und wirkung, von logischem schluss und persönlicher konsequenz im falle einer durchaus möglichen fehlentscheidung (wie auch des gegenteils) verheerende auswirkungen mit sich bringen kann. mit sich bringen könnte

als simples anwendungsbeispiel dient uns zuerst die folgende frage: wenn diese ampel dort ein grünes lichtsignal zeigte, könnten wir beide, im augenblick noch erwartungsvoll stehend, dann gemeinsam losgehen?

nun, wir könnten dies mit einem nackten `ja´ beantworten, falls wir einen als naiv zu denunzierenden lösungsweg für diese komplexe fragestellung beschreiten wollten. dies würde allerdings in – ich unterstelle: wissender – negation der tatsache erfolgen, dass für das fällen einer derart gewichtigen antwortentscheidung vielerlei gesichts– und standpunkte zu beachten sind. zu beachten wären

für unser antwortverhalten spielt das räumliche gebahren aller strassenverkehrsteilnehmerInnen am bezeichneten ort sowie unsere mögliche interaktion mit ihnen – ich präzisiere: beziehungsweise mit teilen von ihnen – eine nicht zu unterschätzende rolle. (übrigens stelle ich gleichzeitig als these in den virtuellen raum der theorie, dass die meisten unfallopfer, statistisch gesehen, nicht an den roten, sondern – meinen ausführungen zufolge bald erwartungsgemäss – im verlauf der fussgängerInnenampel-grünphasen zu beklagen sind. wobei an dieser stelle die rückfrage einzuschieben ist, welche klage korrekterweise geführt werden müsse – und wann. den eintritt eines mit statistischer sicherheit vorherzusagenden ereignisses zu beklagen, ist durchaus ein erstaunen hervorrufendes verhalten. vergleichbar, etwa, dem beklagen altersbedingter hautfalten.)

desweiteren sind die lichtverhältnisse explizit zu betrachten – nehmen wir diese grüne ampel tatsächlich als zeichengebendes lichtsignal wahr oder unterliegen wir just im moment der entscheidungsfindung einer sinnestäuschung, verwirrt durch räumlich benachbarte, um unsere wahrnehmung konkurrierende lichtreize? – sowie die fähigkeit zur nervenphysiologischen aufnahme, weiterleitung und verarbeitung entscheidungsrelevanter optischer informationen in die aufsummierung der rahmenfaktoren mit einzubeziehen. etwa demgemäss: weiss ich um meine eventuell latente rot-grün-blindheit? sind meine benachbarten handlungspartnerInnen uneingeschränkt optisch entscheidungsfähig? könnte ihr – für das gedankenspiel als zusätzliche rahmenbedingung unterstellt – von dem meinen abweichendes entscheidungsverhalten mein eigenes positiv oder negativ befördern? wie aber ihr dem meinen gleichendes?

oder lenken wir den blick auf die vertiefende frage: handelt es sich wirklich um eine fussgängerInnenampel und wird diese erkenntnis von allen im näheren umfeld angesammelten menschlichen individuen im konsens gehalten – denn gegebenenfalls könnte eine abweichung von dieser übereinkunft unser handeln eklatant beeinflussen bis zur körperlichen versehrtheit, respektive bis zum tode?

zuletzt – wobei ich sicher bin, noch lange nicht den kleinsten teil aller gewichtungsrelevanten fragestellungen beleuchtet zu haben – zwei fragen mit tagesaktuellem politikbezug, zwei fragen auch zur sinnhaftigkeit meines handelns: ist es angesichts der oben angerissenen fragestellung zur verkehrssicherheit an ampelanlagen angebracht, mich an derart exponierter stelle einer statistisch gesicherten todesgefahr auszusetzen – sprich: wäre nicht die überquerung der strasse an nahezu jeder anderen stelle meinem weiteren lebensgenuss dienlicher, rein statistisch gesehen? und – abschliessende frage – wäre eine abweichung aus gründen demonstrativ ausgestellten und fürderhin basisdemokratisch motivierten oppositionsverhaltens nicht angemessener: anarchie im alltag: rot – gehen, grün – stehen? (doch wer verstünde dies?)

somit ist bereits an diesem banalen exempel, diesem alltäglichen wegmal erkennbar, wie schwierig sich der erkenntnispfad zur eingeschränkten bejahung oder auch zur eingeschränkten verneinung gestalten kann, dass demzufolge eine spontane, bedingungslose beantwortung mit `ja´ oder `nein´ unmöglich sein muss

eine beidseitige schweige- und atempause, angemessen kurz. nein, dieser disput war noch nicht entschieden. aber war es, liebste freundin von damals, unvermeidbar und sinnvoll zu erfragen, ob zum gemeinsam lustwandelnden pas de deux durch die einkaufspassagen dieser stadt ein schirm mitzunehmen sei, angesichts der radiomeldung, in der `schauerartige niederschläge´ vorhergesagt worden waren?

ich führe niemals einen schirm mit – du etwa? – nicht einmal auf demonstrationen, die den kampfmässigen einsatz von wasserwerfern erwarten lassen. ausserdem besteht, das bitte ich zu berücksichtigen, die chance einer gebietsbedingten abweichung in der ausgestaltung jedweder witterungsereignisse. zumal es sich bei der prognostizierten um eine niederschlagsform handelt, die, bereits angesichts ihres namens für niemanden unverborgen bleibend, von einer gewissen variablität in ihrer zeitlichen erstreckung kündet. vorausgesetzt also, wir befänden uns zum zeitpunkt des ereigniseintritts in einem bürgerlichen kaffeehaus sitzend, streithaft verstrickt im vergnügen kontroverser philosophischer betrachtungen über die – beispielsweise – verheerend anzuschauenden auswüchse des allseitig zunehmenden destruktivkapitalismus … schliesslich und darüberhinaus mag durchaus die möglichkeit bestehen, dass sich das vorhergesagte meterologische geschehen durch die ausbildung eines sogenannten zwischenhochs zwischen den frontendurchgängen zweier zyklonen … du verstehst?

überwältigt von der mir eigenen verkörperung männlicher prinzipientreue, gepaart mit einem nahezu unerschütterlichen wissenschaftlichen fundament, zerbarst die wiedergewonnen geglaubte redselige laune meiner streitgefährtin erneut und fand – ich verneige mein haupt, erinnernd, in demut vor dir, lina! – einen thematisch durchaus passenden gefühlsausdruck in schauerartigen niederschlägen aus dem bereich ihrer oberen gesichtshälfte, begleitet von heftigem nasenschneuzen

um die in der folge leicht angeschlagene gemütsstimmung des jungen wochenendes zu retten, versuchte ich mich in erklärungen, die auf gemeinschaftlich–emotionalem niveau fussend, gefällige aufnahme und endlich auch zustimmung finden sollten: schau, lina, jede beliebige frage ist doch stets von einem speziellen, individuellen, ja einzigartigen standpunkt aus gestellt; damit verbieten sich absolute begriffe der zustimmung oder ablehnung. ich würde weder der fragenden person noch ihrer kulturellen, sozialen, soziokulturellen, geschlechtlichen, historischen, ethnischen gesellschaftlichen oder sonst–wie–einbindung gerecht. ganz abgesehen davon, dass die exogenen standortfaktoren, also jene von ausserhalb, von der umgebenden umwelt aus hineinwirkenden einflüsse, dabei gänzlich unberücksichtigt blieben. es wäre – ich rang nach den schliessenden worten – persönlich, wissenschaftlich und politisch unkorrekt

sie schwieg

ich, eindringlich: schau, selbst die so einfach scheinende frage „liebst du mich“ ist doch eine geradezu gefährliche, angesichts der tatsache, dass jeder mensch eine ganz eigene, höchstpersönliche auffassung von liebe pflegt

sie schwieg. sie schnüffelte. sie schien ein klein wenig besänftigt

ich, beschwörend: und dann gar die frage „liebst du mich noch„. an dieser unwesentlich scheinenden beifügung zerbrachen schon bis dato bestfunktionierende beziehungen. `noch´. haha. `noch´. die kapitalistische sozialisierung der westlichen welt ist in ihrer gesamtheit eingeschlossen in jenem `noch´. die argwöhnische kontrolle des persönlichen besitzstandes, die abfrage des emotionalen status quo, der gesellschaftliche börsenwert in der einen schale der waage, in der anderen die latente, die unterschwellige drohung zurück zu fordern, was verauslagt war: gefühlsleistung. reinster kapitalismus!

ich schrie inzwischen fast, mitgerissen von meiner eigenen, glänzenden rhethorik: kein platz mehr für gefühl, für liebe, ja, die unbedingte liebe – kannst du mir endlich beistimmen, dass generell und gerade hier kein einfaches `ja´ oder `nein´ statthaft sein kann?

langes schweigen. leises schnüffeln. dann – mit diesem unheilvollen blick von unten herauf, schräg zwischen tränenfeuchten wimpern hervor, verschleiert augenwinkelnd, jener blick also, der von hollywood-assimilierten als `romantisch´ missgedeutet wird: und wie ist es mit uns beiden? liebst du mich … noch?

bis heute weiss ich auf diese frage keine antwort zu geben, ausser jener gänzlich aus der form geratenen: keine antwort möglich

unsere beziehung hielt noch drei mühevolle, drei fleissige monate, vielleicht auch ein paar tage mehr


[ zwangspause ]

Sonntag, Januar 16th, 2005

dicker hals, dicker kopf, draussen ein scheissen-
kalter winter – da helfen nur ein stapel wärmender
decken und die hoffnung, dass es bald vorbei ist

bitte nicht ungeduldig werden. wirklich: ich werde
die mails beantworten, sobald ich wieder zu halb-
wegs brauchbaren handlungen fähig bin

bis dahin wünsche ich mir ‚gute besserung‘. wün-
sche mir ruhe. wünsch mir von dir zu hören – und
von dir. (jaaaa, von dir auch, schon wieder). aber
am dringendsten wünsche ich mir den sommer her:
bitte jetzt


ausserdem ist gestern schon wieder meine (zu)
alte kamera abgekackt: keine neuen fotos aus
köln. sehr, sehr schade


[ peryton goes classic ]

Freitag, Januar 14th, 2005

– peter griggs staring at his computer –
 

proben mit dem new yorker gitarristen peter griggs, der-
zeit in düsseldorf lebend. es hört und fühlt sich so an, als
würden wir uns schon ewig kennen … sehr spannend. und
ja, genau so soll ein teil von peryton klingen
 

foto: düsseldorf, 13. januar 2005


[ tote stadt, angezündet ]

Mittwoch, Januar 12th, 2005

– magdeburger silvesterdepressionen –
 

ich finde die meisten feste schrecklich und vermeidens-
wert. geburtstage deprimierend. überflüssig zu erwähnen

wenn ich dir dennoch gratuliere, liegt das einzig in der in-
neren schwärze meiner selbst, in der mir innewohnenden
boshaftigkeit begründet – du magst solche anlässe auch
nicht. was könnte dich also übler treffen, als dir ein foto
zu widmen?

das für diesen zweck ausgesuchte (ich könnte lügen, sa-
gen: extra für dich hergestellte … quatsch), dieses gänz-
lich missratene, daher perfekt geeignete foto erinnert
mich übrigens an das bühnenbild der kieler inszenierung
von korngolds „die tote stadt“. glaub mir: an der auffüh-
rung, die ich mir vor jahren antat (und bislang nicht ver-
gessen konnte), war die dekoration überhaupt das beste
 

foto: tote stadt, angezündet (für doreen)
magdeburg, silvesternacht 2004/2005


[ zu früh (ling) ]

Mittwoch, Januar 12th, 2005

– vor uns –
 

der winter spielt verrückt: macht auf frühling. weil
nicht sein kann, was nicht sein will, halte ich trotzig
mit einem langweiligen herbstfoto dagegen. aber
sogar die kieler förde (draussen vor dem fenster)
spinnt und macht auf blau – hör mal: das bringt
doch nix; hässlich bleibt hässlich
 

foto: leipzig, 28. oktober 2004


[ tristesse (2) ]

Dienstag, Januar 11th, 2005

– und … vorüber –
 

foto: magdeburg, silvesternacht 2004/2005


[ ‚tangermünder nachrichten‘: kritik ]

Samstag, Januar 8th, 2005

ein artikel aus den ‚tangermünder nachrichten‘ über unser konzert am 28. dezember 2004 im tangermünder ‚grete-minde-saal‘ wurde mir in folgendem wortlaut übermittelt – leider ohne angabe des namens des/der autorenIn

„chansonabend gemixt mit rap und rock

mit nackten füssen, zöpfen und roter hose trat chansonnier und liedermacher peryton, alias georg hemprich, am dienstag im ‚grete-minde-saal‘ auf die bühne. und betonte: „für mich sind die schubladen zu klein.“

die beiden tangermünder vereine homegrown und schalomhaus hatten den künstler, der sich selbst nicht für kommerziell hält und bereits im tangermünder club ‚carpe diem‘ auftrat, nach tangermünde geholt. organisator dieses konzertes war sven grasmann, informierte hans-ulrich schmidt vom ’schalomhaus‘.

das programm, das peryton gemeinsam mit seiner band und gastrapper ‚mc albino‘, alias matthias albrecht bot, „würden die anderen als crossover bezeichnen“, sagt peryton. eine chronologische darbietung in drei teilen kündigte er seinem publikum aus beinahe ausschließlich jugendlichen an.

sein konzert begann mit ruhigen chansons, die vor allem eins sein sollen: „anregung zum nachdenken, denn die wirklichkeitswahrnehmung passiert bei den leuten“. er erzählt geschichten, die nicht immer rund sein oder sich reimen müssten. klassik, verbunden mit moderner lyrik wolle er bieten, sagt peryton.

chanson, chanrap und chanrock

das motto seiner konzerttour, die noch nach magdeburg weiterging, hieß „peryton goes rock“. allerdings über einen umweg: rap. gemeinsam mit rapper ‚mc albino‘ ließ er die musikstile ineinander übergehen, zum „chanrap“ werden. im dritten teil folgte die rockige variante seiner chansons: „chanrock“.

danach gefragt, wo er herkomme, sagt peryton: „ich bin überall, und die musik, die ich vor ort mache, soll nicht meine musik sein, sondern die der stadt, in der ich gerade bin.“ sein publikum sei normalerweise gut gemischt von unter 20 bis über 60 jahren. die gäste im ‚grete-minde-saal‘ in tangermünde musste der künstler anfangs aber noch überzeugen, wirklich ruhig hinzuhören.“


konzertfotos tangermünde (28.12.04) – jens grubert

konzertfotos magdeburg (29.12.04) – jens grubert


[ in eigener sache: peryton (ist) links ]

Samstag, Januar 8th, 2005

ich freue mich, dass dir mein konzert gefallen hat und du mich bei dir verlinkt hast, ‚enfant terrible‘ – aber warum betitelst du den peryton-link mit „Deutscher Chanson!“?

glaub mir, neuer freund, das ist ein missverstehen, das mich schmerzt: ich schreibe und singe meine chansons in deutscher sprache, weil ich überwiegend in dieser sprache denke und träume; manchmal allerdings auch auf französisch, englisch oder – selten – auf spanisch

die deutsche sprache ist mir (nur!) werkzeug und vehikel, um meine tägliche arbeit zu bewerkstelligen: die kritische auseinandersetzung mit kultur, geschichte und politik jenes landes, das mich unfreiwillig zu einem `deutschen staatsbürger‘ gemacht hat

bezeichnetest du meinen chanson als ‚deutschsprachig‘, drückte dies (m)eine mir wichtige distanz zum deutschen staat und zur alltäglich-normalen staatlichen vereinnahme allen geistigen und kulturellen schaffens in diesem lande aus – kurz: mit dieser formulierung lägst du näher an meiner wirklichkeit und du kämst mir sowie den inhalten meiner musik näher

nein, ich bin nicht ‚deutsch‘, ich bin viel mehr als das – und ich bin überall fremd. soll heissen: überall zuhause


[ vier fragen ]

Freitag, Januar 7th, 2005

sie kamen per email und schienen mir beantwortenswerter als die in weblogs so beliebten ‚most urgent questions of the day‘ (sowas wie „wann hattest du zum letzten mal sex in der badewanne?“ … gääääääääähn … )

– 1 –
welche art mensch gibt es in 1000 jahren?

immer noch den ‚homo sapiens‘. für die ausbildung neuer menschenarten sind tausend jahre ein zu kleiner zeitraum

falls aber die frage nicht in wissenschaftlich-biologischem sinn, sondern philosophisch auszulegen war: heute mache ich mir vorrangig keine gedanken über mögliche tendenzen der menschheitsentwicklung – weder positiv noch negativ. in meinen augen ist es wesentlich dringlicher, an lösungsmöglichkeiten aktueller fragestellungen zu arbeiten, kultur und sozialleben heute schon in einer art mitzugestalten, die ich auch in der prognose einer möglichen zukunft lebenswert finde

allerdings hatte ich mich vor über 10 jahren an einem ausschreiben zum thema „frieden in der welt im jahr 2010“ (oder so ähnlich) beteiligt. irgendein ‚friedenskalender‘ hatte dieses ding veranstaltet – ich glaube mich auch noch zu erinnern, dass irgendein kieler verlag daran beteiligt war. mein beitrag, meine persönliche ‚weltbildprognose‘, fiel wütend und düster aus; damit war im vorfeld gesichert, dass dieser text keine prämierung erfahren konnte. allerdings entsprach meine prognostizierte wirklichkeit in etwa der heutigen situation. bei gelegenheit werde ich den text heraussuchen – vorausgesetzt, ich finde davon noch verwertbare reste

– 2 –
wenn es sowas wie ‚gott‘ gibt, und du könntest es einige tage sein, was würdest du machen?

selbstverständlich gibt es ‚götter‘ – allerdings nur in der phantasie der menschen. sie sind die bildgewordenen gedankengespinste erträumter sicherheit, phantasmata der sehnsucht nach geborgenheit, erklärung, antwort … und nach macht

angesichts der unzähligen erfahrungen menschlicher zivilisationsgeschichte ist schwer nachvollziehbar, warum menschen (dennoch) immer wieder gottbilder zu ‚benötigen‘ scheinen, sie konservieren und neu erschaffen. nach meiner einschätzung führen derartige konstruktionen weder zu aufklärung noch zu freiheit, sondern stets (und) logischerweise zu unfreiheit, zwang (selbstzwang eingeschlossen) und unterdrückung

in einem meiner chansons („da du gehen musst“) singe ich „wenn ich die zeiten lenkte – sie lenken würd ich nicht“; nein, ich habe kein interesse an macht – vielmehr interesse an einer dekonstruktion von strukturen, die macht, unfreiheit und leid erzeugen

– 3 –
(zu 2) würdest du die welt zerstören um eine neue zu erschaffen? oder nur zerstören? oder sie ändern?

die von mir verwandte formulierung ‚dekonstruktion von macht‘ impliziert die zerstörung von machtstrukturen – also ihren abbau, gegebenenfalls auch mit militanten mitteln. ich bin ein verfechter gewaltfreier aktionsformen und befürworte durchaus (zum beispiel) das einreissen von gefängnismauern, falls eine direkte aktion dies nötig machte. und sofern keine lebewesen dadurch gefährdet oder beschädigt würden

sanfter formuliert: ich habe schon vielfach jagdhochsitze abgesägt und die folgen juristisch durchstritten, da ich diskussion über ‚zivilen ungehorsam‘, ‚anarchie im alltag‘ und das positive bild einer anti-hierarchisch libertären lebensalternative aktiv befördern will

– 4 –
kann man menschen wie tiere halten?

als ich anfing politisch wacher zu werden und zum ersten mal bilder von gefangenen in konzentrationslagern sah, menschenleiberhaufen, fotos von erschossenen soldaten der weltkriege und später (ich glaube ende der siebziger jahre) von noch existenter sklavenhaltung im süden nordamerikas erfuhr, habe ich einfach nicht verstehen können. habe ich mich geweigert zu verstehen

während meiner ersten eigenständigen auslandsreise, im alter von 16 jahren, mit einem freund durch frankreich trampend, wurden wir wiederholt als „boche“ beschimpft – ich war verletzt, weil ich nicht begriff, warum wir junge menschen … der zweite weltkrieg war doch schliesslich nicht ‚unser‘ krieg gewesen, sondern der unserer eltern und grosseltern. in paris fand ich in einem antiquariat einen fotoband über deutsche konzentrationslager – mit fotos, die schrecklicher waren als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. mir fehlte der mut, das buch zu kaufen. aber ich glaubte zum ersten mal, etwas verstanden zu haben

nein, niemand hat das recht, menschen zu ‚halten‘. kein mensch, niemand. in einer gerechten welt kann es kein oben und unten geben, keine macht und keine abhängigkeit

nach meinem empfinden hat auch kein mensch das recht, tiere zu ‚halten‘, da ich die spezisitische trennung von ‚mensch versus tier‘ ablehne und bekämpfe: kein oben, kein unten, keine abhängigkeit. aus diesem grunde begreife ich mich heute als aktiven teil der linken autonomen tierrechtsbewegung

danke, z., deine fragen haben mich sehr zum nachdenken gebracht. du wirst nun verstehen, was ich damit meinte, als ich dir schrieb, ich bräuchte für die antworten doch etwas mehr zeit …


[ atlantis 2004 ]

Donnerstag, Januar 6th, 2005

– oder – [ katastrophen-olympiade ]

herausgerufen strömen patriotenscharen aus
heimlichen bunkerlöchern, schlagen heulend sich
an ihre brust und bringen neue hymnen zu gehör
: euros sollen rollen gegen alle qual. da sind ver-
sunken fernerholungstempel mitsamt dem sex-
touristen und grauslig vielen indigenen; da klopft
das deutsche herz vernehmlich und macht
deutsche tränen, oben

mir ist egal, wieviele opfer welcher nationalstatistik
zugeschlagen sind: da enden unvorstellbar viele
menschenleben. reicht euch das nicht für die ge-
meinsame, die hilfe ohne namen?

ich glaub euch allen nicht. ich glaube nicht gesalb-
ten reden und nicht den tränen jener, die vom
elend leben. den schmerz betroffener muss ich
nicht allerorten und nicht ohne ende sehen, wie
die filmsequenz einschlagender flugzeuge in den
zwillingstürmen

erinnert ihr euch noch, wie sich die sprache hin
zum krieg gedreht, in kurzen stunden? so wird
die menschenkatastrophe hin zum argument
gewandelt und zum börsenspiel

nein, ich muss mich nicht entschuldigen vor je-
nen, die betroffen waren und betroffen sind
– doch die sollen bespien sein, von mir, die deren
schmerz missbrauchen


[ durch die nacht ]

Mittwoch, Januar 5th, 2005

– casablanca 05 –
 

die karawane zieht an mir vorbei
versunken hinterm steuer, in gedanken
gleich der nacht, draussen (und) vorüber
fragen auf den rücken schaukelnd; fremd
oder eigen? wo soll mein auge
ruhen in der nacht? auf wiegender
rippe, im bug meines schiffes oder bei
dir? die nächste karawane; déja vu, déja cru

fehler oder
trug?

selbst oder fremd sein – diese frage trieb
schon manche in den wahn; mich: durch
die nächte, karawanengleich

so neigt sich dir mein gruss entgegen
dir, da ich enteile, da ich davon träume
davonträume und davon
geneigt
 

foto: magdeburg, 01. januar 2005


[ neujahrsgrüsse ]

Sonntag, Januar 2nd, 2005

ja, auch ich verschicke neujahrsgrüsse; wenn auch nur an wenige. an dich, zum beispiel: vergiss uns beide nicht, im umherwirbeln, im alltagstreiben. ja?

lass dich umarmen, ferne, in gedanken
dann fliehn wir voneinander; du
dort hin, ich da hin. wie immer
bis zum nächsten erwachen
bis zur nächsten sehnsucht
morgen, vielleicht

ja, vielleicht schon morgen

komm. sag es